Schwerbehinderung

Hinweispflicht auf den Zusatzurlaub

15. April 2019
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Quelle: © kosmos111 / Foto Dollar Club

EuGH und BAG haben entschieden: Urlaubstage verfallen erst, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigten rechtzeitig auf seine Ansprüche hinweist. Unterlässt er dies, droht Schadenersatz. Hinweispflicht und Ersatzpflicht gelten auch für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen. Von Margit Körlings.

Die Klägerin ist schwerbehindert. Das Arbeitsverhältnis bestand seit dem 1.1.2012. Das Kündigungsschutzgesetz findet keine Anwendung. Das Arbeitsverhältnis endete zum 31.03.2018. Im Rahmen der Kündigungsschutzklage verlangt sie Schadenersatz: Der Arbeitgeber habe ihre Schwerbehinderung gekannt, sie aber nicht darauf hingewiesen, dass Ihr der Zusatzurlaub zusteht. Den Schwerbehindertenausweis hat die Arbeitnehmerin im September 2015 vorgelegt.

Die Klägerin wirft dem Arbeitgeber eine Verletzung der Fürsorgepflicht vor und verlangt Ersatz für die Zusatzurlaubstage, die ihr bis Anfang 2018 zugestanden hätten.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen hat den Arbeitgeber verurteilt, die Zusatzurlaubstage für die Jahre 2015 bis 2017 und anteilig für 2018 abzugelten.

Hintergrund: Zusatzurlaub

Schwerbehinderte Menschen, also Personen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 oder mehr, haben Anspruch auf bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr (§ 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Er erhöht oder verringert sich entsprechend, wenn der Arbeitnehmer an mehr oder weniger als fünf Tagen pro Kalenderwoche arbeitet (§ 208 Abs. 1 Satz 2 SGB IX). Es handelt sich um einen sogenannten Mindestzusatzurlaub, der den persönlichen Urlaubsanspruch des Arbeitsnehmers erhöht. Der Anspruch ist unabdingbar.

Neue Hinweispflicht auf Urlaubstage

Der Europäische Gerichtshof EuGH9 hatte2018 entschieden, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, etwas gegen den drohenden Verfall von Urlaubstagen zu tun. Er muss den Arbeitnehmer nicht zum Urlaubnehmen zwingen, ihn aber in die Lage versetzen, den bezahlten Jahreslaub zu nehmen (EuGH 6.11.2018 – C-684/16). Dazu muss er den Arbeitnehmer über den Stand der ihm zustehenden Urlaubstage informieren, und ihn –erforderlichenfalls förmlich- auffordern, den Urlaub zu nehmen. Er muss dem Arbeitnehmer »klar und rechtzeitig« mitteilt, dass und zum Ende welchen Bezugszeitraumes oder zulässigen Übertragungszeitraumes sein Urlaubsanspruch verfallen wird. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese Vorgaben umgesetzt (BAG 19.2.2019 – 9 AZR 541/15).

Beweislast liegt beim Arbeitgeber

Aufgrund dieser vom EuGH festgestellten Pflicht trägt der Arbeitgeber die Beweislast. Nur wenn der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis, der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet, den Urlaub zu nehmen, erlischt der Anspruch. Dann kommt aber auch eine Abgeltung nicht in Betracht. Hintergrund ist der Zweck von Urlaub., Dieser soll es dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich zu erholen, sich zu entspannen und Kraft für die weitere Arbeit zu tanken.

Die Aufforderungs- und Informationspflicht des Arbeitgebers ergibt sich nach dem BAG aus einer § 241 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Das Arbeitsverhältnis ist ein Schuldverhältnis, in dem eine Pflicht zur Rücksichtnahme auf den Vertragspartner besteht. Der Arbeitgeber muss auf das Wohl und die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen und ihm insbesondere vor Gesundheitsgefahren zu schützen, wie sie der Verlust des Erholungsurlaubs nach sich ziehen könnte.

Verletzt der Arbeitgeber diese Pflicht und dem Arbeitnehmer gehen Urlaubstage verloren, führt dies zu einem Schadensersatzanspruch in Form von Ersatzurlaub. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses wandelt sich dieser in einen Abgeltungsanspruch um.

Dazu ist es erforderlich, dass der Arbeitgeber Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft hat. Da nicht nachgewiesen werden konnte, dass der Arbeitgeber vor September 2015 Kenntnis von der Schwerbehinderung der Klägerin hatte, wurde er auch nur für die Zeit ab 2015 verurteilt, den verlorenen Urlaub zu ersetzen.

Die Entscheidung ist noch nicht rechtkräftig, sondern beim BAG unter dem Aktenzeichen 2 AZN 286/19 anhängig.

Hinweise für die Praxis

Arbeitnehmer sind grundsätzlich nicht verpflichtet, ihre Schwerbehinderteneigenschaft preiszugeben. Will man aber den Arbeitgeber in die Pflicht nehmen, den Zusatzurlaub zu gewähren oder den besonderen Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen anzuerkennen, muss er von der Schwerbehinderung erfahren.

Berechnen der Urlaubstage

Wird die Schwerbehinderteneigenschaft nicht schon zu Jahresbeginn, sondern erst im Laufe des Jahres anerkannt, steht dem schwerbehinderten Menschen ein anteiliger Zusatzurlaub für dieses Jahr zu (§ 208 Abs. 2 SGB IX). Wird die Schwerbehinderteneigenschaft rückwirkend für ein vorangegangenes Jahr festgestellt, gelten für den Zusatzurlaub dieses Jahres die Regelungen zur Übertragbarkeit des Urlaubs (§ 208 Abs. 3 SGB IX).

Ergibt sich für das Jahr der Feststellung ein bruchteiliger Urlaubsanspruch, ist der Urlaub aufzurunden (§ 208 Abs. 2 Satz 2 SGB IX). Das gleiche gilt für den gesetzlichen Mindesturlaub (§ 5 Abs. 2 BUrlG). Danach sind Bruchteile von Urlaubstagen, die mindestens einen halben Tag ergeben, auf volle Urlaubstage aufzurunden sind. Daraus lässt sich der Umkehrschluss ziehen, dass ein Urlaubsanspruch, der weniger als einen halben Tag umfasst, nicht aufzurunden ist, aber auch nicht, dass er ersatzlos wegfällt (BAG 14.02.1991 – AZR 97/90 und BAG 23.01.2018 – 9 AZR 200/17).

Margit Körlings, DGB Rechtsschutz GmbH

Quelle

LAG Niedersachsen (16.01.2019)
Aktenzeichen 2 Sa 567/18
Diese Entscheidungsbesprechung erhalten Sie als Teil des Newsletters AiB Rechtsprechung für den Betriebsrat vom 17.4.2019.
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