Arbeitszeitrecht

Ruhepausen können als Arbeitszeit zählen

26. Februar 2020
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Quelle: © Sven Hoppe / Foto Dollar Club

In der Regel gelten Ruhepausen nicht als Arbeitszeit und brauchen deshalb nicht vergütet zu werden. Nach einem neuen Antrag des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) kann es aber auch Ruhepausen geben, die als Arbeitszeit zählen und somit zu vergüten sind.

Darum geht es:

Herr XR war beim Verkehrsbetrieb der Hauptstadt Prag als Feuerwehrmann beschäftigt. In seinen Pausen konnte er in die 200 Meter von seinem Arbeitsplatz gelegene Betriebskantine gehen. Dabei musste er ein Funkgerät bei sich tragen, um im Alarmfall innerhalb von zwei Minuten einsatzbereit zu sein und von einem Einsatzfahrzeug vor der Betriebskantine abgeholt zu werden. Die Ruhepausen wurden nur dann auf seine Arbeitszeit angerechnet, wenn sie von einem Einsatz unterbrochen wurden. Nicht unterbrochene Pausen wurden dagegen nicht entlohnt. XR ist der Auffassung, auch nicht unterbrochene Pausen müssten als Arbeitszeit berücksichtigt werden und zog deshalb vor Gericht. Er klagte 95.335 Tschechische Kronen Entlohnung (entspr.ca. 3.770,- EUR - Red.) zuzüglich Verzugszinsen ein. Vom Stadtbezirksgericht Prag 9 in erster Instanz und vom Stadtgericht Prag in zweiter Instanz bekam er auch Recht.

Der Verkehrsbetrieb ging in Revision, und das Oberste Gericht der Tschechischen Republik hob die Urteile der Vorinstanzen auf: Es könne zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Pausen aufgrund eines Einsatzes unterbrochen würden, das träte aber nur zufällig und unvorhersehbar ein, so dass sie »nicht als gewöhnlicher Teil der Ausübung der beruflichen Verpflichtungen angesehen werden könnten«. Deshalb könnten die Ruhepausen grundsätzlich nicht als Arbeitszeit angesehen werden. Das Oberste Gericht verwies die Sache zur materiellen Prüfung an das Stadtbezirksbericht Prag 9 zurück.

Vorlagefragen an den Europäischen Gerichtshof

Das Stadtbezirksgericht Prag 9 wäre nach tschechischem Recht an die Auffassung des Obersten Gerichts gebunden, dürfte also die Ruhepausen nun nicht mehr als Arbeitszeit betrachten. Es ist jedoch der Ansicht, dass die Umstände, unter denen XR seine Pausen nehmen musste, für deren Eigenschaft als Arbeitszeit nach der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88) sprechen.

Deshalb setzte es das Verfahren aus und legte dem EuGH zur Vorabentscheidung die Fragen vor, ob Ruhepausen wie im Falle XR als Arbeitszeit anzusehen sind, ob es dabei eine Rolle spielt, dass die plötzlichen Einsätze lediglich zufällig und unvorhersehbar sind und ob ein Gericht der unteren Instanzen die eigentlich bindende Rechtsansicht eines übergeordneten Gerichts außer Acht lassen kann, wenn diese im Widerspruch zum europäischen Recht steht.

Ausführungen des Generalanwalts

Der Generalanwalt ist der Ansicht, dass Pausen wie die von XR, bei denen man mit dem Funkgerät in der Kantine sitzt, um im Bedarfsfall innerhalb von zwei Minuten einsatzbereit zu sein, Arbeitszeit darstellen.

Das europäische Arbeitszeitrecht kennt nur zwei Arten von Zeiten: Arbeitszeit und Ruhezeit. Eine Grauzone dazwischen gibt es nicht. Über die Einstufung von Bereitschaftszeiten gibt es schon Rechtsprechung des EuGH. Wird diese auf die Ruhepausen übertragen, so ergibt sich in Fällen wie dem vorliegenden die Einstufung als Arbeitszeit.

Der Generalanwalt hebt besonders auf die Entscheidung in der Sache Matzak aus dem Jahre 2018 ab, wo es um Bereitschaftszeiten eines Feuerwehrmannes ging, während derer er an seinem Wohnsitz zu sein und innerhalb von acht Minuten einem Ruf seines Arbeitgebers zum Einsatzort Folge zu leisten hatte. Eine solche Bereitschaftszeit sah der EuGH als Arbeitszeit an.

Daraus zieht der Generalanwalt einen Erst-Recht-Schluss: Wenn schon eine Bereitschaftszeit mit etwas milderen Einschränkungen als im vorliegenden Fall als Arbeitszeit anzusehen ist, dann erst recht eine Ruhepause mit Anwesenheitspflicht in der Kantine und Einsatz binnen zwei Minuten.

Die permanente Alarmbereitschaft läuft dem Erholungszweck der Ruhepause entgegen. Dass die tatsächlichen Einsätze gelegentlich und unvorhersehbar sind, ändert daran nichts. Auf ihre Häufigkeit kommt es nicht an. Auch auf die Intensität der Arbeitsleistung kommt es nicht an. Es gibt viele Arbeiten, die zu großen Teilen aus Sich-zur-Verfügung-Halten bestehen.

Bindung an das Oberste Gericht?

Bleibt die Frage, wie mit der sich aus dem nationalen Recht ergebenden Bindung an die Rechtsauffassung des übergeordneten Gerichts umzugehen ist. Dazu sagt der Generalanwalt: Es ist Pflicht des nationalen Gerichts, den Vorrang des Unionsrechts zu gewährleisten.

Deshalb muss ein nationales unterinstanzliches Gericht, das von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, fragliche Vorschriften durch den EuGH auslegen zu lassen, gegebenenfalls von der Beurteilung des übergeordneten Gerichts abweichen, wenn es angesichts der Auslegung durch den EuGH der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht.

Für den vorliegenden Fall heißt das: Da das Oberste Gericht der Tschechischen Republik sagt, Ruhepausen wie im vorliegenden Fall mit vorgeschriebener Anwesenheit in der Kantine und Einsatzbereitschaft binnen zwei Minuten seien keine Arbeitszeit, muss das unterinstanzliche Gericht davon abweichen.

Wie geht es weiter?

Die Anträge des Generalanwalts sind noch kein Urteil, und der EuGH ist immer für Überraschungen gut. Dennoch sei die Prognose gewagt: In diesem Fall dürfte er wohl dem Generalanwalt folgen. Die Dispositionsfreiheit von XR in den beschriebenen Ruhepausen ist zu eingeschränkt, der Erst-Recht-Schluss zu der Sache Matzak zu zwingend, als dass man mit etwas anderem rechnen dürfte. XR kann also erwarten, zu obsiegen.

Rechtsfrage auch für Deutschland relevant

Zwar handelt es sich um einen tschechischen Fall, die Rechtsausführungen gelten aber auch für Deutschland. Auch hier zählen Ruhepausen normalerweise nicht zur Arbeitszeit, und auch hier könnte die Problematik einer Abweichung von einer eigentlich bestehenden Bindung an das oberste Gericht bestehen. (§ 563 Abs. 2 ZPO: »Das Berufungsgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.«)

Torsten Walter, LL.M. (Leicester), DGB Bundesvorstand

Quelle

EuGH, Generalanwalt (13.02.2020)
Aktenzeichen C-107/19
Quelle: EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Giovanni Pitruzella vom 13. Februar 2020 in der Rechtssache C-107/19, XR gegen Dopravní podnik hl. m. Prahy a.s.
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