Arbeitszeit

EuGH verkündet Urteile zur Rufbereitschaft

16. März 2021
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Quelle: © Sven Hoppe / Foto Dollar Club

In zwei Vorlageverfahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, ob und wann Rufbereitschaft Arbeitszeit sein kann. Das ist bei der Rufbereitschaft eines Feuerwehrmanns in Deutschland möglich. Maßgeblich dafür ist, wieviel Bewegungsfreiheit dem Arbeitnehmer im Einzelfall verbleibt, so der EuGH.

Darum geht es:

Wir hatten bereits über die beim EuGH anhängigen Verfahren und über die Anträge des Generalanwalts Giovanni Pitruzzella vom 6. Oktober 2020 berichtet (»EuGH entscheidet über Rufbereitschaft«, 9.10.2020).

Verfahren 1: Feuerwehrmann in Offenbach

Wie berichtet, ging es im ersten Verfahren um einen Feuerwehrmann bei der Stadt Offenbach am Main. Dieser muss regelmäßig Rufbereitschaftsdienst leisten. Das heißt, er muss währenddessen ständig erreichbar sein, seine Einsatzkleidung mit sich führen und ein vom Arbeitgeber zur Verfügung gestelltes Einsatzfahrzeug bereithalten. Er muss seinen Aufenthaltsort so wählen, dass er auf Anruf innerhalb von 20 Minuten in Einsatzkleidung und mit dem Einsatzfahrzeug die Stadtgrenze von Offenbach erreichen kann. Die Stadt lehnte ab, seine Rufbereitschaft als Arbeitszeit anzuerkennen und zu vergüten. Das Verwaltungsgericht Darmstadt legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Verfahren 2: Sendetechniker in Slowenien

Der Kläger des anderen Verfahrens ist Sendetechniker in Slowenien. Er war von August 2008 bis Januar 2015 mit Aufgaben in Sendeanlagen beschäftigt, die im Hochgebirge lagen.. Die Arbeitgeberin stellte den Sendetechnikern dafür in den Sendegebäuden Küche, Ruhe- und Aufenthaltsräume bereit. Auch er musste Rufbereitschaftsdienst leisten und im Bedarfsfall binnen einer Stunde am Arbeitsplatz sein. Wie dem Feuerwehrmann war ihm für die Rufbereitschaft kein bestimmter Aufenthaltsort vorgeschrieben; wegen der Abgelegenheit der Sendeanlage musste er aber während der Rufbereitschaftszeiten praktisch in der Sendeanlage wohnen. Auch der Sendetechniker erhob Klage auf Bezahlung für die Zeiten der Rufbereitschaft als Überstunden. Der Oberste Gerichtshof von Slowenien legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Linktipp

Mehr zu den Vorabfragen der Gerichte und den Stellungnahmen des Generalanwalts Pitruzella vom 6.10.2020 lesen Sie in »EuGH entscheidet über Rufbereitschaft«, 9.10.2020. Maßgeblich kam es in beiden Verfahren auf die Frage an, ob und wann die Bereitschaft als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung einzustufen ist.

 

Das sagt der EuGH

In den jetzt ergangenen Urteilen folgt der EuGH weitgehend den Schlussanträgen seines Generalanwalts Giovanni Pitruzzella vom 6. Oktober 2020, die wir hier schon dargestellt haben. Aus den Urteilen ergibt sich, dass der Feuerwehrmann einigen Grund zum Optimismus hat, der Fernsehsendetechniker aber nicht:

Der EuGH hebt hervor, dass eine Bereitschaftszeit, in der ein Arbeitnehmer in Anbetracht der ihm eingeräumten sachgerechten Frist für die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeiten seine persönlichen und sozialen Aktivitäten planen kann, a priori keine „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 ist. Umgekehrt ist eine Bereitschaftszeit, in der die dem Arbeitnehmer auferlegte Frist für die Aufnahme seiner Arbeit nur wenige Minuten beträgt, grundsätzlich in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ anzusehen, da der Arbeitnehmer in diesem Fall in der Praxis weitgehend davon abgehalten wird, irgendeine auch nur kurzzeitige Freizeitaktivität zu planen.

Verfahren 1: EuGH zum Bereitschaftsdienst der Feuerwehr

Angesichts der knappen 20 Minuten, die dem Feuerwehrmann im Falle des Falles bleiben, spräche dies dafür, dass seine Bereitschaftszeiten Arbeitszeit sind. Der EuGH fährt allerdings fort: Gleichwohl ist die Auswirkung einer solchen Reaktionsfrist im Anschluss an eine konkrete Würdigung zu beurteilen, bei der gegebenenfalls die übrigen dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen sowie die ihm während seiner Bereitschaftszeit gewährten Erleichterungen zu berücksichtigen sind.

  • Dabei ist u. a. von Bedeutung, wenn der Arbeitnehmer in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, weil er wegen der möglichen Inanspruchnahme durch seinen Arbeitgeber zu Hause bleiben muss, oder wenn er eine spezielle Ausrüstung mitführen muss für den Fall, dass er sich nach einem Anruf an seinem Arbeitsplatz einzufinden hat.
  • Desgleichen ist im Rahmen der dem Arbeitnehmer gewährten Erleichterungen von Bedeutung, ob ihm ein Dienstfahrzeug zur Verfügung gestellt wird, mit dem Sonderrechte gegenüber der Straßenverkehrsordnung und Wegerechte in Anspruch genommen werden können, oder ob er die Möglichkeit hat, der Inanspruchnahme durch seinen Arbeitgeber ohne Ortsveränderung nachzukommen.
  • Zweitens muss neben der Frist, über die der Arbeitnehmer verfügt, um seine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, von den nationalen Gerichten berücksichtigt werden, wie oft er im Durchschnitt während seiner Bereitschaftszeiten normalerweise tatsächlich Leistungen zu erbringen hat, wenn insoweit eine objektive Schätzung möglich ist.
  • Ein Arbeitnehmer, der während einer Bereitschaftszeit im Durchschnitt zahlreiche Einsätze zu leisten hat, verfügt nämlich über einen geringeren Spielraum, um seine Zeit während der Perioden der Inaktivität frei zu gestalten, weil diese häufig unterbrochen werden. Dies gilt umso mehr, wenn die Einsätze, die dem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeit normalerweise abverlangt werden, von nicht unerheblicher Dauer sind.
  • Folglich handelt es sich, wenn der Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten im Durchschnitt häufig zur Erbringung von Leistungen herangezogen wird und diese Leistungen in der Regel nicht von kurzer Dauer sind, bei den Bereitschaftszeiten grundsätzlich insgesamt um „Arbeitszeit“ im Sinne der europäischen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88. Aber wie gesagt, die Häufigkeit der Einsätze während Bereitschaftszeiten ist nur ein Faktor unter anderen. Auch wenn es selten zu Einsätzen kommt, kann es sich bei den Bereitschaftszeiten dennoch um Arbeitszeit handeln, wenn die dem Arbeitnehmer für die Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit auferlegte Frist Auswirkungen hat, die seine Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zeit, in der während der Bereitschaftszeiten seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, objektiv gesehen ganz erheblich einschränken.

Fazit: Nationales Gericht muss die Umstände ermitteln

  • Der EuGH betont, dass die Ermittlung der relevanten Umstände Sache des vorlegenden nationalen Gerichts ist, gibt aber einen deutlichen Wink, indem er nochmals auf die 20 Minuten hinweist, innerhalb der der Feuerwehrmann unter Inanspruchnahme von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung und von Wegerechten innerhalb von 20 Minuten die Stadtgrenze von Offenbach am Main erreichen muss.

Verfahren 2: EuGH zum Bereitschaftsdienst des Sendetechnikers

Warum sieht es für den Fernsehsendetechniker schlechter aus? Er hat eine längere Frist, nämlich eine Stunde statt 20 Minuten, um im Bedarfsfall am Einsatzort zu sein. Nun ist das für den betroffenen Arbeitnehmer kein Trost, denn auf seiner abgelegenen Bergsendestation bleiben ihm, ob 20 Minuten, ob eine Stunde bis zum Einsatz, nicht viele Möglichkeiten zur freien Gestaltung der Rufbereitschaftszeit.

Diese geographische Situation ist aber nach Ansicht des EuGH juristisch belanglos! Er führt aus: „So stellt zum einen die große Entfernung zwischen dem vom Arbeitnehmer frei gewählten Wohnort und dem Ort, der für ihn während seiner Bereitschaftszeit innerhalb einer bestimmten Frist erreichbar sein muss, für sich genommen kein relevantes Kriterium für die Einstufung dieser gesamten Zeitspanne als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 dar; dies gilt zumindest dann, wenn dieser Ort sein gewöhnlicher Arbeitsplatz ist. In einem solchen Fall war der Arbeitnehmer nämlich uneingeschränkt in der Lage, die Entfernung zwischen dem fraglichen Ort und seinem Wohnort einzuschätzen.

Zum anderen ist für die Einstufung der Bereitschaftszeit als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 auch nicht relevant, dass es in dem Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft in der Praxis nicht verlassen kann, wenig Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten gibt und dass sein Arbeitsplatz schwer zugänglich ist.“

Aussicht: Wie geht es weiter?

Die Urteile des EuGH schließen die Fälle noch nicht ab; sie beantworteten ja nur Vorlagefragen. Nunmehr müssen die Gerichte, von denen die Vorlagefragen kamen, im Lichte der Antworten des EuGH ihre Urteile sprechen. Es ist wohl nicht allzu gewagt, im Falle des Sendetechnikers die Prognose zu stellen, dass er bedauerlicherweise unterliegen wird. Trotz des sehr eingeschränkten Freizeitwerts von dessen Rufbereitschaft – im Grunde ist sie ein besserer Hausarrest am Arbeitsort – der EuGH gesteht den diese Einschränkungen verursachenden Umständen keine juristische Bedeutung zu. Nach Ansicht des EuGH sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten für die Arbeitnehmer mit sich bringen kann, unerheblich.

Im Falle des Feuerwehrmannes dürfte die Würdigung der Gesamtumstände durch das vorlegende Gericht im Lichte der Ausführungen des EuGH wohl dazu führen, dass seine Rufbereitschaftsdienste als Arbeitszeit anerkannt werden.

Autor:

Torsten Walter, LL.M. (Leicester), DGB Bundesvorstand
 

Quelle

EuGH (09.03.2021)
Aktenzeichen C-580/19, C-344/19
EuGH, Urteile vom 9.3.2021 in den Rechtssachen C-580/19, JR gegen Stadt Offenbach am Main und C-344/19, D.J. gegen Radiotelevizija Slovenija.
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