Arbeitszeit

Wann Reisezeit mit der Bahn Arbeitszeit ist

09. Juni 2023
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Quelle: © Leonid Andronov / Foto Dollar Club

Reisezeit mit der Bahn von Mitarbeitern eines Speditionsunternehmens zu und von Abholorten ist Arbeitszeit. Entscheidend für die Einordnung als Arbeitszeit ist nicht, wie belastend die Tätigkeit ist, sondern nur, ob die Zeit von den Arbeitnehmern in ihrem Sinne beeinflussbar ist. Damit weitet das VG Lüneburg in seiner aktuellen Entscheidung die anzuerkennenden Reisezeiten erheblich aus – unter Bezugnahme auf die Arbeitszeit-Richtlinie und entgegen der gängigen BAG-Definition.


Das war der Fall

Die Klägerin ist ein Speditionsunternehmen, das auf die Überführung von neuen und gebrauchten Nutzfahrzeugen, unter anderem Sattelzugmaschinen, spezialisiert ist. Die für die Überführung eingesetzten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen fahren mit Taxi und Bahn zum jeweiligen Abholort des Fahrzeugs, übernehmen es dort und fahren das Fahrzeug anschließend selbst zum Zielort. Von dort reisen sie wiederum mit der Bahn zurück zu ihrem Wohnort.
Das zuständige Gewerbeaufsichtsamt hatte dem Speditionsunternehmen aufgegeben, die zulässigen Höchstarbeitszeiten einzuhalten und dabei festgestellt, dass Bahnreisezeiten, die im Zusammenhang mit der Überführung von neuen Nutzfahrzeugen anfielen, als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) zu berücksichtigen seien. Dagegen wandte sich das Unternehmen mit dem Argument, die betroffenen Arbeitnehmer seien während der Bahnfahrt in der Gestaltung ihrer Zeit völlig frei, sodass ihnen nur ein »Freizeitopfer« abverlangt werde (also keine Arbeitszeit vorliege).

Das sagt das Gericht

Das Verwaltungsgericht Lüneburg sah das allerdings anders.
Aufgrund der einschlägigen europarechtlichen Grundlagen der Arbeitszeit-Richtlinie müsse im vorliegenden Fall von der gängigen BAG-Definition zur Arbeitszeit abgewichen werden.

Beanspruchungstheorie des BAG nicht anwendbar

Nach der »Beanspruchungstheorie« des BAG ist eine Dienstreise als Arbeitszeit zu werten, wenn Beschäftigte diese Zeit nicht frei nutzen können, sondern in dieser Zeit von bestimmten Aufgaben belastet bzw. in Anspruch genommen werden. Dies ist z. B. der Fall, wenn Arbeitgeber anordnen, dass während der Zugfahrt am Laptop gearbeitet werden soll oder die Nutzung eines Verkehrsmittels (z. B. PKW) anordnen, dessen Steuerung die Konzentration der Beschäftigten so bindet, dass sich diese nicht entspannen können.
Zwar geht mit dem Bahnfahren im vorliegenden Fall nicht zwingend eine dem Gesundheitsschutz zuwiderlaufende Belastung nach der »Beanspruchungstheorie« des BAG einher. Die Beschäftigten können ihre Zeit während der Bahnfahrt im Prinzip frei gestalten. Für die hier maßgebliche europarechtliche Begriffsbestimmung ist indes allein entscheidend, ob der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt.
Danach zählt die Bahnreisezeit hier als Arbeitszeit. Denn die regelmäßig mehrstündige An- und Abreise mit der Bahn ist einerseits bereits Teil der Leistungserbringung und beschränkt andererseits die Freiheit der Fahrer, über ihre Zeit selbst zu bestimmen. So hängt die Dauer der Bahnreisezeit allein davon ab, an welchen Ort das Fahrzeug überführt werden muss.

Arbeitszeit und nicht bloß Freizeitopfer

Anders als bei der Anreise zu einer festen Betriebsstätte steht sie somit nicht zur Disposition des Arbeitnehmers, sondern ist der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den besonderen Vorschriften des deutschen und des europäischen Rechts zur Arbeitszeit von Personen, die Fahrtätigkeiten im Bereich des Straßentransports ausüben, denn diese fänden im vorliegenden Fall keine Anwendung.
Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig.

Praxishinweis

Wenn Reisezeit wie im vorliegenden Fall als Arbeitszeit im Sinne des ArbZG gilt, müssen auch alle seine Vorschriften zum Schutz vor Überlastung beachtet werden. Das bedeutet, dass Pausenzeiten eingehalten werden müssen (§ 4 ArbZG), pro Tag die Höchstarbeitszeit (8 bzw. 10 Stunden) nicht überschritten werden darf (§ 3 ArbZG), eine Ruhezeit von mindestens elf Stunden nach Arbeitsende gewährleistet (§ 5 ArbZG) und das grundsätzliche Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit beachtet werden muss (§ 9 ArbZG). Außerdem müssen die Zeiten dann auch entsprechend erfasst werden, z.B. per mobiler Arbeitszeiterfassung auf dem Smartphone oder dem Laptop.

© bund-verlag.de (fk)

Quelle

VG Lüneburg (02.05.2023)
Aktenzeichen 3 A 146/22
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