Schwerbehindertenrecht

Betriebsratsmitglied hat Anspruch auf Gleichstellung

17. Juli 2018
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Quelle: © Doris Heinrichs / Foto Dollar Club

Beschäftigte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 oder mehr können die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen beantragen. Die Mitgliedschaft im Betriebsrat und der besondere Kündigungsschutz stehen dem nicht im Wege.

Bei einem mehr als 22 Jahre beschäftigten Arbeitnehmer, der zugleich Betriebsratsmitglied ist, wurde eine GdB von 30 festgestellt. Er hatte als Produktionshelfer immense Einschränkungen im Wirbelsäulenbereich. Er beantragte bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) die Gleichstellung, weil er seinen Arbeitsplatz behalten wollte und diesen gefährdet sah. Die BA lehnte die Gleichstellung ab, weil er als Mitglied des Betriebsrates schon über besonderen Kündigungsschutz verfügt.

Es gab zwar behinderungsbedingte Fehlzeiten und Leistungseinschränkungen sowie eine Kündigungsandrohung, diese sah die BA aber nicht als relevant an und lehnte ab. Der Betroffene klagte und gewann. Die Betriebsratstätigkeit und der damit einhergehende arbeitsrechtliche Kündigungsschutz führen nicht zu einer Ablehnung der Schwerbehinderung. Das Sozialgericht (SG) Berlin bestätigte, dass der Arbeitsplatz des Klägers gefährdet war und er für dessen Erhalt die Gleichstellung benötigt.

Was ist die Gleichstellung?

Menschen sind schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 vorliegt. Arbeitnehmer oder Arbeitssuchende mit einem GdB von 30 oder 40 können sich mit einem schwerbehinderten Menschen gleichstellen lassen. Dazu bedarf es eines Antrages bei der BA. Einen Automatismus, dass man ohne weitere Prüfung bei Feststellung des GdB von 30 oder 40 gleichgestellt wird existiert nicht. Es müssen die weiteren gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt sein.

Die Entscheidung über die Gleichstellung trifft die BA mit einem rechtsmittelfähigen Bescheid. Gegen die Entscheidung können Betroffene Widerspruch und bei Ablehnung auch Klage vor dem Sozialgericht- wie hier geschehen- einlegen.

Wie wirkt sich die Gleichstellung aus?

Mit einer Gleichstellung erlangt man grundsätzlich den gleichen Status wie ein schwerbehinderter Mensch. Damit hat man u.a. arbeitsrechtlich den besonderen Kündigungsschutz, ebenso wie den Anspruch auf Hilfen zur Arbeitsplatzausstattung, Lohnkostenzuschüsse für den Arbeitgeber bei Einstellung und Berücksichtigung bei der Schwerbehindertenquote/ Beschäftigungspflicht des Arbeitgebers. Dem Gleichgestellten steht allerdings nicht der gesetzliche Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen zu.

Voraussetzungen für die Gleichstellung

Die BA gewährt die Gleichstellung, wenn der Betroffene einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten kann (§ 2 Abs. 3 SGB IX). Beide Alternativen können gleichzeitig vorliegen, es reicht aber aus, wenn eine Alternative davon gegeben ist um die Gleichstellung zu bekommen.

Wenn also der Betroffene aufgrund seiner Behinderung Schwierigkeiten hat, seinen geeigneten Arbeitsplatz zu behalten, wird gleichgestellt. Genau dies ist in der Praxis nicht immer der Fall.

Eine behinderungsbedingte Gefährdung des Arbeitsplatzes wird daher z. B. in diesen Fällen verneint:

  • betriebliche Umstrukturierungen
  • Auftragsrückgang
  • Rationalisierungsmaßnahmen
  • Teilstillegungen

Der Grund ist klar: Ein Beschäftigter ohne Behinderung ist von diesen Maßnahmen ebenso betroffen wie ein schwerbehinderter Mensch. Damit ist der Arbeitsplatz nicht aufgrund der Behinderung gefährdet, sondern wegen anderer betrieblicher Gründe.

Eine Gefährdung des Arbeitsplatzes wird bejaht,

  • wenn viele krankheitsbedingte Fehlzeiten vorliegen.
    • Vorsicht: Die Fehlzeiten müssen behinderungsbedingt sein, d.h. die Arbeitsunfähigkeit muss aufgrund der Erkrankungen sein, die zu der Feststellung des GdB geführt haben. Dies wäre u.a. zu verneinen bei Zeiten der Arbeitsunfähigkeit etwa wegen einfacher Erkältungen oder eines Magen Darm- Virus.
  • wenn behinderungsbedingte verminderte Arbeitsleistung oder Belastbarkeit vorliegt.
  • wenn zur Ausübung der Tätigkeit technische Hilfen benötigt werden oder dauerhaft auf Hilfeleistung anderer Arbeitskollegen angewiesen ist.  
  • wenn der Arbeitgeber auf die Behinderung oder Leistungsminderung bereits reagiert hat, entweder durch Abmahnung, Anbieten von Aufhebungsverträgen oder Kündigungsandrohung

Auswirkungen der Entscheidung

Die Entscheidung des SG ist erfreulich. Sie stellt sich gegen die manchmal gängige Praxis der BA , die Gleichstellung abzulehnen, weil ein anderweitiger besonderer Kündigungsschutz besteht, z.B. durch Zugehörigkeit zum Betriebsrat, Personalrat oder zur Schwerbehindertenvertretung.

Wer sich als Betroffener dieser Argumentation ausgesetzt sieht, sollte die BA auf ihre eigenen internen Weisungen ansprechen und Widerspruch erheben. In den fachlichen Weisungen zu § 2 SGB IX, gültig ab 01.01.2018, ist explizit aufgeführt, dass ein besonderer Kündigungsschutz, etwa auch über Tarifvertrag oder Betriebsratsämter, eine Gleichstellung nicht hemmt. Die Weisungen sind für jeden öffentlich einsehbar unter www. arbeitsagentur.de,  »Fachliche Weisung zu § 2 SGB IX«.

Praxistipp

Wie man aus den vorstehenen Aufzählungen erkennen kann, ist es nicht einfach, eine Gleichstellung zu erhalten. Viele meinen, dass es ausreicht den GdB von 30 oder 40 zu haben, um die Gleichstellung zu bekommen. Dem ist nicht so.  Es ist damit in der Praxis immens wichtig, was der Betroffene zur Begrüdung seines Antrags vorträgt. Die BA schreibt im Verfahren auch den Arbeitgeber an, so der Antragsteller dass unbedingt darauf achten sollte, alles Wichtige und für die Gleichstellung Positive schon beim Antrag mitzuteilen.

Für Betriebsräte ist wichtig, dass sie wissen, dass im Antrag abgefragt wird, ob anderweitiger besonderer Kündigungsschutz durch Betriebsratsmitgliedschaft besteht. Hier sollte wahrheitsgemäß beantwortet werden.  Sollte dann wegen diesem besonderen Kündigungsschutz abgelehnt werden, ist unbedingt zum Widerspruch und ggf. der Klage zu raten.

Bettina Krämer LL.M., DGB Rechtsschutz GmbH

Quelle

SG Berlin (12.02.2018)
Aktenzeichen S 57 AL 1161/16
Diese Entscheidungsbesprechung ist Teil des Newsletters AiB Rechtsprechung für den Betriebsrat 13/2018 vom 18.7.2018.
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