Whistleblowing ist kein Kündigungsgrund
Es geht um einen klassischen Fall des Whistleblowings.
Das war der Fall
Ein Verein kümmert sich um Kinder und Jugendliche mit Missbrauchserfahrungen und besonderem Betreuungsbedarf. Die zweite Vorsitzende des Vereins – die auch als Koordinatorin tätig ist – erstattet Strafanzeige gegen den Verein wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten. Sie hatte im Papierkorb des E-Mail-Postfachs mehr als 700 Bestellungen der ersten Vorsitzenden des Vereins bei Amazon entdeckt, die sie dem Vereinszweck nicht zuordnen konnte.
Daraufhin erhielt sie vom Verein eine außerordentliche und zwei ordentliche Kündigungen. Zudem stellte der Arbeitgeber einen Auflösungsantrag für das Arbeitsverhältnis und bot eine Abfindung an. Die Beschäftigte wehrte sich gegen Kündigungen und die Auflösung des Arbeitsverhältnisses.
Das sagt das Gericht
Die Kündigungen waren nicht wirksam. Hat der Arbeitgeber sich selbst strafbar gemacht, begeht ein Beschäftigter, der in Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte die Staatsanwaltschaft einschaltet, in der Regel keine Pflichtverletzung, die eine Kündigung rechtfertigt, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG).
Folgendes gilt laut Gericht:
- Die Strafanzeige darf keine unverhältnismäßige Reaktion des Beschäftigten sein.
- Eigentlich gilt die Regel, dass Beschäftigte Hinweise auf strafbares Verhalten zunächst
- gegenüber dem Vorgesetzten oder
- anderen intern zuständigen Stellen (Controlling, Compliance-Abteilung etc) vorbringen sollen.
- Dies gilt allerdings nicht, wenn der Arbeitgeber selbst die Straftaten begangen hat.
- In diesem Fall tritt die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers zurück.
- Weiter trifft den anzeigenden Arbeitnehmer auch keine Pflicht zur innerbetrieblichen Klärung, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist. Den Arbeitnehmer in einer solchen Konstellation auf die innerbetriebliche Abhilfe zu verweisen, wäre unverhältnismäßig und würde unzulässigerweise in seine Freiheitsrechte eingreifen.
Auflösungsantrag ist berechtigt
Allerdings entschied das Landesarbeitsgericht (LAG), dass das Arbeitsverhältnis aufgrund der Umstände des Einzelfallsgegen eine angemessene Abfindung aufzulösen war.
Diese Auflösung können sowohl der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber nach § 9 KSchG beantragen. Der Arbeitgeber kann dies tun, wenn die Kündigung sich im Prozess als unwirksam herausstellt, aber Gründe vorliegen, die „eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit“ mit dem Arbeitnehmer nicht erwarten lassen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG).
Solche Gründe sah das LAG auch in diesem Fall: So hatte die Klägerin u. a. die erste Vorsitzende des Vereins in einer WhatsApp-Nachricht als „Narzisstin“ bezeichnet. Das Gericht befand, das Verhältnis zwischen der Klägerin und den Vertretern des Vereins sei durch eine persönliche Feindschaft und den internen Machtkampf geprägt. Die Klägerin erhielt eine Abfindung von 9.000 Euro zugesprochen.
Das gilt für die Praxis
Hätte hier bereits das Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) gegolten, wären in diesem Fall Kündigung und Auflösung des Arbeitsverhältnisses vermeidbar gewesen. Denn das HinSchG ist für genau diese Fälle konzipiert. Es gewährt Beschäftigten Schutz vor arbeitsrechtlichen Sanktionen, wie beispielsweise einer Kündigung, die auf Missstände im Betrieb aufmerksam machen. Das neue Gesetz schafft zudem ein geordnetes Verfahren, um derlei Missständen abzuhelfen.
Aber schon bislang galt, dass Beschäftigte keine Pflichtverletzung begehen, wenn sie aus guten Gründen Strafanzeige direkt gegen den Arbeitgeber erstatten.Dies gilt allerdings nur, wenn die Anzeige keine überzogene Racheaktion ist.
Eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung bleibt unter den Voraussetzungen von § 9 KSchG möglich. Es bleibt abzuwarten, ob bei „Whistleblowing-Fällen“ die Auflösungen gegen Abfindung künftig zunehmen. Denn ob die Whistleblower angemessen und „ohne persönliche Feindschaft“ gegen den Arbeitgeber gehandelt haben, so dass ihr Verbleib im Unternehmen zumutbar bliebe, muss das Arbeitsgericht dann ja auch in jedem Einzelfall prüfen.
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Quelle
Aktenzeichen 5 Sa 172/22