Insolvenz

Kündigungen schon vor Beginn einer Betriebsänderung möglich

23. August 2023 Insolvenz, Kündigung
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Quelle: © S. Engels / Foto Dollar Club

Bei einem Interessenausgleich mit Namensliste wird vermutet, dass die Kündigung der darin genannten Beschäftigten betrieblich bedingt ist (§ 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Die gesetzliche Vermutung gilt schon, wenn sich die Betriebsänderung oder -schließung noch im Planungsstadium befindet - so das Bundesarbeitsgericht.

Darum geht es

Der Arbeitnehmer war seit 2011 bei einem Unternehmen mit ca. 400 Arbeitnehmern tätig, das Spezialprofile aus Stahl und Stahlerzeugnissen herstellt und vertreibt. Das Unternehmen wurde insolvent und der Insolvenzverwalter bereitete die Stilllegung des Betriebs vor.

Vor diesem Hintergrund schloss der Insolvenzverwalter mit dem beim Unternehmen gebildeten Betriebsrat am 29. Juni 2020 einen Interessenausgleich mit drei verschiedenen Namenslisten, die insgesamt sämtliche Beschäftigten aufführten. Der Arbeitnehmer war auf der zweiten Liste namentlich genannt.

Nach Unterzeichnung des Interessenausgleichs kündigte der Insolvenzverwalter dessen Arbeitsverhältnis betriebsbedingt mit Schreiben vom 29. Juni 2020 zum 31. Mai 2021. Da sich der Arbeitnehmer zwischenzeitlich auf eine Schwerbehinderung berief, die aber später nicht festgestellt wurde, kündigte er vorsorglich ein weiteres Mal mit Schreiben vom 20. August 2020 zum selben Kündigungstermin.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) hatte beide Kündigungen noch als unwirksam angesehen (LAG Hamm 13.1.2023 - 16 Sa 485/21).

Das sagt das BAG

In der Revision hatte der Insolvenzerverwalter vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) Erfolg.

Die Kündigung vom 20. August 2020 habe das Arbeitsverhältnis des Klägers wirksam zum 31. Mai 2021 beendet. Es sei rechtskräftig festgestellt, dass dieser keinen besonderen Kündigungsschutz infolge einer Schwerbehinderung genießt. Die Kündigung sei jedenfalls aufgrund der gesetzlichen Vermutung in § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO wirksam, dass bedingt ist.

Der Arbeitnehmer sei wirksam aufgrund eines Interessenausgleichs mit Namensliste gekündigt worden, so dass gemäß § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu vermuten sei, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG bedingt ist.

 Im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs müsse sich die Betriebsänderung noch in der Planungsphase befinden, damit dem Betriebsrat entsprechend dem Zweck des § 111 BetrVG eine Einflussnahme auf die unternehmerische Entscheidung möglich ist.

Der Insolvenzverwalter habe - entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts - hinreichend dargelegt, dass die der Kündigung zugrunde liegende Betriebsänderung iSd. § 111 BetrVG bereits geplant war. Die diesbezügliche Vermutungswirkung habe der Arbeitnehmer nicht widerlegen können. Auf die Wirksamkeit der zum selben Beendigungstermin ausgesprochenen Kündigung vom 29. Juni 2020 kam es für die Entscheidung daher nicht mehr an, wie das BAG mitteilt.

Hinweis für die Praxis

Ein Interessenausgleich mit Namensliste ist ein zweischneidiges Schwert. Die gesetzliche Vermutung, dass die Kündigung durch „dringende betriebliche Erfordernisse gerechtfertigt“ ist, also die Kernbegründung jeder betriebsbedingten Kündigung (§ 1 Abs. 2 KSchG) können Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess kaum noch widerlegen.

Andererseits sehen sich Betriebsräte oft, gerade bei einer drohenden Betriebsschließung, unter Druck, den Namenslisten zuzustimmen, damit der Arbeitgeber bzw. Insolvenzverwalter sich auf annehmbare Regelungen für die Beschäftigten im Interessenausgleich einlassen. Denn im Gegensatz zum Sozialplan kann der Betriebsrat einen Interessenausgleich bekanntlich nicht erzwingen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die geplante Schließung oder zumindest Betriebsänderung noch nicht zu 100 Prozent feststehen muss, wenn die Kündigung ausgesprochen wird, sondern dass diesbezügliche Planungen genügen. Mit Recht weist das BAG darauf hin, dass das im Sinne des Betriebsrats ist, damit dieser noch so lange wie möglich Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen nehmen kann.  

Ein möglicher Trost für betriebsbedingt gekündigte Arbeitnehmer: Erweisen sich die Prognosen zur Schließung des Unternehmens als falsch und wird das Unternehmen weitergeführt, kommt ein Anspruch auf Wiedereinstellung in Betracht - nach einer umstrittenen neueren BAG-Entscheidung allerdings nicht mehr, wenn das Insolvenzverfahren eröffnet wurde (BAG 25.5.2022 - 6 AZR 224/21).

Lesetipp:

  • Zum Wiedereinstellungsanspruch allgemein: Zwanziger/Yalcin in Däubler/Deinert (Hrsg.) Kündigungsschutzrecht, Kommentar für die Praxis, 11. Aufl. 2020, Teil I Kapitel IX, Wiedereinstellungsanspruch, Rn. 356 ff).
     
  • Zum Wiedereinstellungsanspruch im Sozialplan: a.a.O,  Rn. 371).

Die 12. Auflage des Kommentars erscheint am 13.10.2023 (Titel im Shop anzeigen).

© bund-verlag.de (ck)

Quelle

BAG (17.08.2023)
Aktenzeichen 6 AZR 56/23
BAG, Pressemitteilung vom 17.8.2023
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