Arbeitszeit - Der DGB-Rechtsschutz kommentiert

Gutschrift für verlorene Arbeitszeit

17. April 2015

Eine Betriebsvereinbarung kann bestimmen, dass den Beschäftigten Arbeitszeit gutgeschrieben wird, wenn sie wegen einer »Naturkatastrophe« nicht arbeiten können. Im Zweifel schließt dies auch Verspätungen auf dem Weg zur Arbeit mit ein.

Sturmtief »Ela« sorgt für Verkehrshindernisse

Der Betriebsrat eines Versicherungsunternehmens will erreichen, dass die Arbeitgeberin eine Betriebsvereinbarung durchführt. Am 09.06.2014 kam es unter anderem im Bereich Düsseldorf zu einem Unwetter mit orkanartigen Böen.
Dies führte im Stadtgebiet dazu, dass zahlreiche Bäume auf die Straßen stürzten und den Verkehr behinderten. Dadurch konnten an diesem Tag mehrere Mitarbeiter der Versicherung ihre Arbeitsplätze nicht oder nur mit erheblichen Verspätungen erreichen.

Betriebsvereinbarung zur flexiblen Arbeitszeit

Bei der Arbeitgeberin existiert eine Betriebsvereinbarung zur flexiblen Arbeitszeit (BV). In § 13 der BV hieß es unter anderem:

»Unberührt der Regelung des § 616 BGB, des MTV für das private Versicherungsgewerbe und der BV »Arbeitsordnung und Sozialleistungen« werden die Zeiten folgender Arbeitsausfälle dem Gleitzeitkonto gutgeschrieben: […]

g) Naturkatastrophen (Nachweis nur bei lokalem Auftreten erforderlich).«

Der Betriebsrat verlangt, dass die Arbeitgeberin den Mitarbeitern die Arbeitsausfälle in Folge des Sturms in ihren Gleitzeitkonten gutschreibt. Die Arbeitgeberin meint, dass eine Zeitgutschrift gemäß § 13 g) BV nur zu erteilen sei, wenn wegen einer Naturkatastrophe in ihrem Betrieb nicht gearbeitet werden könne.

Arbeitsausfall umfasst auch das Wegerisiko

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf hat dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben. Er kann von der Arbeitgeberin die Durchführung der BV aus eigenem Recht verlangen.

Diese begründet abweichend von den allgemeinen Grundsätzen einen Anspruch auf Zeitgutschrift wegen eines Arbeitsausfalls bei Naturkatastrophen, der das Wegerisiko mit einschließt.

Grundsätzlich trägt der Arbeitnehmer das Wegerisiko auch bei Naturkatastrophen. Gelangt er deshalb nicht zur Arbeit, hat er keinen Vergütungsanspruch. § 13 g) BV enthielt indes eine für die Arbeitnehmer günstigere Regelung.

Der in der BV verwendete Begriff des »Arbeitsausfalls« ist weit zu verstehen und umfasst das Wegerisiko, zumal dieses auch an anderen in anderen Buchstaben von § 13 BV angesprochen ist.

Durchführungsanspruch des Betriebsrats

Mit der Entscheidung, dass dem Betriebsrat ein Durchführungsanspruch zusteht, hat das LAG zugleich anerkannt, dass die Arbeitnehmer der Versicherung gemäß der BV einen Anspruch auf Zeitgutschrift wegen des Sturms »Ela« haben können.

Ob und inwieweit dies bei dem einzelnen Arbeitnehmer tatsächlich der Fall war, müssen diese jetzt individuell klären. Das LAG hat die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen.

Quelle:
LAG Düsseldorf, Beschluss vom 23.03.2015
Aktenzeichen: 9 TaBV 86/14
LAG Düsseldorf, Pressemitteilung vom 23.03.2015

Folgen für die Praxis

Mit Anmerkungen von Matthias Bauer, ehemals DGB Rechtsschutz GmbH

Der Fall bietet Gelegenheit, den in der Praxis für den Betriebsrat sehr wichtigen sogenannten Durchsetzungsanspruch zur Umsetzung einer Betriebsvereinbarung besprechen zu können.

Wirkung der Betriebsvereinbarung

Die Betriebsvereinbarung ist ähnlich wie ein Gesetz abstrakt formuliert und so auf eine Vielzahl von individuellen Einzelfällen anwendbar. Nur ihr Geltungsbereich ist auf den Betrieb oder das Unternehmen begrenzt. Anders als ein Gesetz hat sie aber zudem Vertragscharakter, weil sie von beiden Betriebsparteien abgeschlossen wurde.

Die Betriebsvereinbarung wirkt mithin in zwei Richtungen. Sie gibt dem einzelnen Beschäftigten einen individuellen Anspruch oder ein Verhaltensregelwerk. Daraus folgt das Interesse des Betriebsrats, dass die Vereinbarung auch in der Praxis umgesetzt wird.

Durchführungsanspruch des Betriebsrats

Dieses Interesse des Betriebsrats, dass die Vereinbarung nicht in der Schublade verstaubt, ist in § 77 Abs.1 BetrVG mit dem einfachen Satz geschützt und normiert: »Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber führt der Arbeitgeber durch.« Die Durchsetzung der Vereinbarung kann der Betriebsrat über das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren mit dem Mittel des Zwangsgelds erzwingen.

Eine Einschränkung ist dabei zu beachten. Soweit die Betriebsvereinbarung individuelle Rechte für die Beschäftigten enthält, kann sie auch nur der Einzelne gerichtlich durchsetzen. Nur soweit sie organisatorischer Natur ist, gilt der auf § 77 BetrVG gestützte Durchsetzungsanspruch des Betriebsrats. Beispiele für letzteren sind etwa die Durchführung einer zusätzlichen Schicht, das Angebot für bestimmte Fortbildungsmaßnahmen oder die Einhaltung eines Systems von Verbesserungsvorschlägen.

Individuelle Rechte müssen Arbeitnehmer selbst durchsetzen

Die einzelnen Beschäftigten können also ihre individuellen Rechte aus einer Betriebsvereinbarung, z.B. auf Zahlung einer Zulage oder Prämie, die konkrete Freistellung oder wie im vorliegenden Fall die Anrechnung einer Fehlzeit als Arbeitszeit, nicht über den Betriebsrat durchsetzen.

Weigert sich der Arbeitgeber, müssen sie den Gerichtsweg selbst beschreiten. Es ist verständlich, dass die Beschäftigten einen direkten Rechtsstreit mit dem Arbeitgeber vermeiden wollen. Deshalb stehen Betriebsräte in der Praxis oft unter Druck, Ansprüche der Beschäftigten vor Gericht im Beschlussverfahren durchzusetzen. Dies bleibt aber fast zwangsläufig erfolglos.

Positiver Trend: Betriebsrat kann Anwendung der Vereinbarung erzwingen

Die Besonderheit des vorliegenden Falles ist, dass der Arbeitgeber sich keineswegs geweigert hat, die Betriebsvereinbarung durchzuführen. Er streitet sich vielmehr mit dem Betriebsrat über die Auslegung der Vereinbarung.

Mit der Entscheidung des LAG Düsseldorf wird ein Trend verstärkt, auch die Auslegungsstreitigkeit als Gegenstand des Durchsetzungsanspruchs nach § 77 BetrVG zu behandeln (Vgl. auch LAG Schleswig-Holstein vom 15.09.2009 – 5 TaBV 9/09).

Das ist aus mehreren Gründen auch sinnvoll. Ein einziges Beschlussverfahren des Betriebsrats ist geeignet in vielen Einzelfällen Rechtsbefriedung zu schaffen, wenn der Arbeitgeber die Entscheidung akzeptiert. Zwar kann er die betroffenen Beschäftigten in die Individualklage treiben, müsste aber mit dem gleichen Ergebnis rechnen.

Denn bei aller Unabhängigkeit der Gerichte spricht vieles dafür, dass die Arbeitsgerichte im Klageverfahren und auch die anderen Kammern am LAG Düsseldorf sich der Entscheidung der 9. Kammer anschließen. Der Instanz, die das Beschlussverfahren im Sinne des Betriebsrats entschieden und die Rechtsbeschwerde ans Bundesarbeitsgericht nicht zugelassen hat.

Lesetipp der AiB-Redaktion
Zum Durchführungsanspruch des Betriebsrats und seiner schnellen Durchsetzung: »Wenn es schnell gehen muss« von Staack/Sparchholz in »Arbeitsrecht im Betrieb« 3/2015, S. 44-47.

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