Kündigung - Der DGB-Rechtsschutz kommentiert

EuGH beschneidet Rechte bei Massenentlassungen

30. Juni 2015

Für Massenentlassungen gelten EU-Sonderregelungen. Plant ein Arbeitgeber eine Entlassung von mindestens 20 Beschäftigten, so muss er die Arbeitnehmervertreter konsultieren. Es fragt sich, ob dabei alle Entlassungen unternehmensweit zusammen zählen. Der EuGH hat dies nun verneint.

Im aktuellen Verfahren hatten eine Arbeitnehmerin und eine britische Gewerkschaft gegen die britische Warenhauskette Woolworth geklagt. Dor gab es in Folge wirtschaftlicher Schwierigkeiten betriebsbedingte Kündigungen in mehreren Filialen.

Die Kläger verlangen Entschädigungszahlungen, da das aufgrund einer EU-Richtlinie vorgesehene Konsultationsverfahren für Massenentlassungen nicht eingehalten worden sei.

In erster Instanz unterlagen insgesamt 4.500 ehemalige Mitarbeiter, da sie jeweils in Filialen mit weniger als 20 Mitarbeitern beschäftigt waren – damit war die erforderliche Schwelle nicht erreicht.

Betriebsbegriff ist entscheidend

Zum Hintergrund: Die EU-Richtlinie 98/59/EG v. 20.7.1998 sieht bei Entlassungen von mindestens 20 Beschäftigten besondere Informations- und Konsultationspflichten mit Arbeitnehmervertretern vor.

Die Mitgliedsstaaten haben diese Richtlinie jeweils unterschiedlich ausgelegt. Fraglich war nun in dem Verfahren, ob sich der Wortlaut »mindestens 20 Mitarbeiter« auf einen Betrieb bezieht oder auf sämtliche Betriebe des Arbeitgebers.

Denn legt man die Gesamtzahl der Entlassungen zugrunde, die zum selben Termin in allen Filialen eines Unternehmens stattfinden, so würde die Zahl der Arbeitnehmer erheblich steigen, die in den Genuss des Schutzes der Richtlinie gelangen. Dies wiederum entspräche den mit der Richtlinie verfolgten Zielen.

Betrieb entspricht einer Filiale

Die Richter stellten zunächst fest, dass ein »Betrieb« ein unionsrechtlicher Begriff sei und nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten zu bestimmen ist, sondern in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen sei. Er könne als Einheit definiert werden, dem die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen sind.

Somit entspricht der Betriebsbegriff wohl eher einer Filiale, weniger dem gesamten Einzelhandelsunternehmen. Die Auslegung der Wendung »mindestens 20« erfordere es dann, »Entlassungen in jedem Betrieb für sich genommen zu berücksichtigen«, so die Richter. Das bedeutet also: nur wenn, in einer Filiale mindestens 20 Mitarbeiter die Kündigung erhalten, greifen die Vorschriften einer Massenentlassung.

Entsetzen im Europäischen Parlament

Jutta Steinruck (SPD), Mitglied des Europäischen Parlaments, bezeichnete die Sichtweise, die in dem Urteil zum Ausdruck komme, als »erschreckend«. Entließen große Handelsketten in ihren Filialen tausende von Beschäftigten, müssten ihre »wenigen Rechte« wenigstens anerkannt bleiben.

Jede Einheit als gesonderten Betrieb zu bezeichnen, sei ein »Schlag ins Gesicht« der Arbeitnehmer. Das Urteil zeige, dass »wir auch diese Richtlinie auf europäischer Ebene dringend reformieren und einen höchstmöglichen Schutz von Arbeitnehmern bei Massenentlassungen sicherstellen müssen«.


Quelle:
EuGH, Urteil vom 30.04.2015
Aktenzeichen: Rs. C-80/14

Lesetipps der AiB-Redaktion:

  • »Strategie gegen Massenentlassungen« von Heiko Peter Krenz in »Arbeitsrecht im Betrieb« 12/2014, S. 47-50 . 
  • Zur Bedeutung des EuGH für das Betriebsverfassungsrecht: »Kein Papiertiger«- von Rudolf Buschmann in »Arbeitsrecht im Betrieb« 4/2014, S. 21-24.
Folgen für die Praxis

Mit Anmerkungen von Jens Pfanne, DGB Rechtsschutz GmbH

Die europäische Richtlinie zu Massenentlassungen (RL 98/59/EG) gehört zu den ältesten Richtlinien der Europäischen Union zum Arbeitsrecht. Die sozialen Auswirkungen eines umfangreichen Personalabbaus in einem Unternehmen auf die hiervon betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie deren Familien können gravierend sein.

Daher hat der europäische Gesetzgeber bereits im Jahre 1975 dieses wichtige Themenfeld erkannt und einheitliche Regelungen formuliert, auch wenn es sich im Ergebnis lediglich um verpflichtende Verfahren zur Information und Konsultation der Arbeitnehmervertreter und Anzeigeverfahren gegenüber staatlichen Stellen handelt. Das Recht des Arbeitgebers, Massenentlassungen nach freier Entscheidung durchzuführen wird durch die Richtlinie nicht beeinträchtigt.

Die Vorschriften der Richtlinie haben im deutschen Arbeitsrecht in § 17 KSchG ihren Niederschlag gefunden. Nach der Rechtsprechung ist eine vor Ausspruch einer Kündigung ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige Voraussetzung für deren Wirksamkeit. Hierzu gehört auch die vorherige Unterrichtung des Betriebsrats.

Erfolgt die Konsultation der Arbeitnehmervertreter oder die Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit nicht oder nicht ordnungsgemäß sind die Kündigungen unwirksam. Auch verspätete Anzeigen führen zur Unwirksamkeit.

Der EuGH setzt seine Auslegung eines »Betriebs« auch mir der aktuellen Entscheidung fort. Der Betriebsbegriff wird weit ausgelegt, um der Richtlinie einen weiten Anwendungsbereich zu ermöglichen.

Allerdings kann im Einzelfall diese weite Auslegung die Anwendbarkeit der Richtlinie vergrößern oder aber einschränken. Nach der Größe eines »Betriebs« und damit der Anzahl der Beschäftigten richtet sich der zu erreichende Schwellenwert an auszusprechenden Kündigungen für die Anwendung der Richtlinie.

Um dem Schutzzweck der Richtlinie gerecht zu werden, wäre es im aktuellen Fall erforderlich nicht auf den einzelnen Kleinbetrieb abzustellen, sondern das Unternehmen als Ganzes zu betrachten. Die Entscheidung, mehrere Tausend Arbeitnehmer zu entlassen, trifft schließlich in der Regel die Konzernführung.

Trotz der aktuellen Entscheidung des EuGH bleibt den Arbeitgebern anzuraten, im Zweifel die einzelnen Betriebsteile bei der Berechnung des Schwellenwertes zu berücksichtigen und den Betriebsrat über eine Massenentlassung zu unterrichten.

Bei Fehlern begibt er sich sonst in das Risiko zur erheblichen Zahlung von Annahmeverzugslohn. Dies kann mit der (eingeforderten) Beachtung des Konsultationsverfahrens von Anfang an vermieden werden.

Lesetipps der AiB-Redaktion:

  • »Strategie gegen Massenentlassungen« von Heiko Peter Krenz in »Arbeitsrecht im Betrieb« 12/2014, S. 47 - 50 .
  • »Kein Papiertiger« - Zur Bedeutung des EuGH für das Betriebsverfassungsrecht - von Rudolf Buschmann in »Arbeitsrecht im Betrieb« 4/2014, S. 21-24.
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