Krankheit

Längere Bahnfahrt spricht nicht gegen Krankschreibung

31. August 2023 Entgeltfortzahlung
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Quelle: © Leonid Andronov / Foto Dollar Club

Die ärztliche Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit hat hohen Beweiswert. Dieser ist nicht erschüttert, wenn die Erkrankung zum Ende der Kündigungsfrist stattfindet oder der Arbeitnehmer direkt vor seiner Krankmeldung zehn Stunden mit der Bahn gefahren ist – so das LAG Mecklenburg-Vorpommern.

Darum ging es

Der Arbeitnehmer war bei einem Reha-Klinikum als Chefarzt für die orthopädische Abteilung angestellt. Er unterhielt während der Zeit eine Zweitwohnung in der Nähe seiner Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befand sich ca. 1.000 km entfernt in Süddeutschland. Am 16.8.2021 kündigte er sein Arbeitsverhältnis mit arbeitsvertraglicher Kündigungsfrist zum 28.2.2022. Zwischen dem Ausspruch seiner Kündigung und dem 2.2.2022 war der Chefarzt an insgesamt an 48 Kalendertagen arbeitsunfähig.

Am 9.2.2022 meldete er sich krank und fuhr mit der Bahn rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz. Am 10.2.2022 bescheinigte ihm seine behandelnde Hausärztin ihm Arbeitsunfähigkeit (AU) für den Zeitraum 9.2. bis 21.2.2022 aus. Ab dem 22.2.2022 trat der Kläger seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub an. und nahm zum 1.3.2022 in einer anderen Reha-Klinik eine neue Beschäftigung als Oberarzt auf.

Seine frühere Arbeitgeberin hat die Krankschreibung des Chefarztes vom 9.2. bis 21.2.2022 angezweifelt und seinen Lohn einbehalten. Sie meinte, wenn ihr Mitarbeiter krank gewesen wäre, hätte er nicht zehn Stunden Bahn fahren können. Zudem fand die Arbeitgeberin das pünktliche Ende der Erkrankung zum Beginn des Urlaubs auffällig.

Das sagt das Gericht

Der Arzt klagte sein ausstehendes Gehalt für diese Zeit in Höhe von 5.625 € erfolgreich ein. Nach dem Arbeitsgericht gab ihm auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Recht: Der Kläger habe einen Anspruch auf Zahlung des einbehaltenen Arbeitsentgelts gegen seine damalige Arbeitgeberin aus Entgeltfortzahlungsrecht (§ 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 EFZG).

Eine ordnungsgemäß vom zuständigen Arzt ausgestellte AU-Bescheinigung sei das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Arbeitsgerichte sehen in der Regel den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht an, wenn der Arbeitnehmer die AU-Bescheinigung vorlegt.

Der Arbeitgeber kann allerdings den Beweiswert der AU-Bescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. Gelingt ihm dies, kommt der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zu.

Im Krankenversicherungsrecht gibt es Regelbeispiele in § 275 SGB V, die „ernsthafte Zweifel“ an der Bescheinigung rechtfertigen: Nach § 275 Abs. 1a SGB V sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit etwa anzunehmen, wenn Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind. Die Regelbeispiele sind aber nicht abschließend.

LAG: Bahnfahrt spricht nicht gegen Krankheit

Die rund zehnstündige Bahnreise des Klägers weckte keine Zweifel an der Richtigkeit der AU-Bescheinigung, so das LAG. Denn die Belastung durch die Bahnreise sei nicht annähernd mit der täglichen Belastung einer Chefarzttätigkeit vergleichbar.

Der Beweiswert einer AU-Bescheinigung sei auch nicht allein deshalb erschüttert, weil der Arbeitnehmer sich gegen Ende der Kündigungsfrist krankmeldet. Krankheiten können auch in einem gekündigten oder einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase mag zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen – das sei aber kein Grund, den Beweiswert von AU-Bescheinigungen in dieser Phase generell anzuzweifeln.

Lesetipp:

»Digitale AU in der Praxis« von Sabrina Burkart in »Arbeitsrecht im Betrieb« 9/2023, S. 23 ff.

© bund-verlag.de (ck)

Quelle

LAG Mecklenburg-Vorpommern (13.07.2023)
Aktenzeichen 5 Sa 1/23
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