Digitalisierung

So gelingt der Einsatz neuer IT-Systeme – mitbestimmt

10. Oktober 2022
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Quelle: © funkyfrogstock / Foto Dollar Club

Die neue IT-Lösung soll effektiv, funktional und kinderleicht zu bedienen sein. Dann kommt der Praxisschock: Nichts funktioniert wie zugesagt, Beschäftigte kämpfen mit unhandlichen Systemen. Im Interview mit »Gute Arbeit« 9/2022 zeigt Professor Simon Nestler Strategien auf, wie man Projektfehler vermeidet. Beteiligung von Beschäftigten und Interessenvertretungen ist für ihn ein Erfolgsfaktor.

Vorbemerkung: Der Interview-Partner Professor Simon Nestler hat einen Praxisleitfaden verfasst (Menschenzentrierte Digitalisierung), der Interessenvertretungen dabei helfen kann, wie eine neue Software eingeführt werden sollte: wie sie gedacht, konzipiert, geplant, diskutiert, entwickelt und verbessert werden sollte. Und zwar in dieser Reihenfolge. Der Leitfaden basiert vor allem auf Projekten und Praxiserfahrungen aus Verwaltungen, ist jedoch auch für Arbeitgeber und Betriebsräte hilfreich und geeignet. Hier ein stark  gekürzter Auszug des Interviews:

Eine Software überzeugt den Arbeitgeber, alle Probleme scheinen gelöst. Danach stöhnt das Personal, weil die Handhabbarkeit schlecht ist. Sind solche Fehler vermeidbar?

Zunächst stellt sich die Frage: Wer kauft ein? Wer entscheidet, ob eine Software passt? Häufig tragen Personen dafür die Verantwortung, die ein System oder eine Software im Arbeitsalltag nicht nutzen. (…)

Die Beschäftigten, die eine Software in der Praxis anwenden, sind hingegen meistens bei der Anschaffung nicht oder kaum involviert. Daher kann zum Zeitpunkt des Kaufs nicht über die Benutzbarkeit und Handhabung geurteilt werden. (…) Fundierte Erfahrung mit der Qualität verschaffe ich mir erst beim Arbeitseinsatz.

Also entscheiden die Häuptlinge, die Indianer sind nicht eingeweiht. Was muss bei der betrieblichen Digitalisierung besser laufen?

Letztendlich müssen wir über Anforderungen sprechen. Es gibt zwei unterschiedliche Ebenen, was auch die ISO-Norm zur Softwareergonomie (ISO Norm 9241) ausführt: Einerseits die Anforderungen der (…) Häuptlinge: das kann der Preis sein, wobei die Folgekostensein nicht vergessen werden dürfen: etwa durch einen hohen Service- und Wartungs- sowie Schulungsbedarf; die Funktionalität im Einsatz muss stimmen, die IT-Sicherheit, der Datenschutz und so fort.

Andererseits geht es um die Anforderungen der Indianer:innen. Die wollen eine einfache Bedienung, eine gute Gebrauchstauglichkeit, transparente Arbeitsergebnisse, eine hohe Fehlertoleranz mit Korrekturmöglichkeiten und ein positives Arbeitserleben. Beide Anforderungen sind bedeutsam. (…)

Das widerspricht der Hierarchie in der Arbeitswelt. Kennen Sie Beispiele, wie es besser läuft?

Eine Chance ist, dass Expertinnen und Experten eingebunden werden, die in Änderungsprozessen fachlich begleiten und auch als Sprachrohr der Benutzerinnen und Benutzer fungieren. Sie nehmen eine vermittelnde Position ein, die gepaart mit ihrer Expertise Gewicht hat. (…). Kommt ein Sachverständiger (…) verläuft die Debatte eher jenseits von Einzelmeinungen, fundierte Erkenntnisse stehen im Vordergrund. Das versachlicht das Ringen um eine gute Lösung.

IT-Systeme werden immer komplexer, es gibt viele Anwendungen, die parallel laufen.

Man muss sich davon verabschieden, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die optimale Lösung auf dem Tisch liegt. Es geht künftig darum, schrittweise die wichtigsten Aspekte eines Problems zu lösen. Hier muss auch das Management umdenken: Führung heißt schon längst nicht mehr, dass jemand auf den Tisch haut und fordert, dass die Arbeit umgestellt werden muss, z. B. digitaler wird, und dann automatisch alles optimal läuft. (…)

Es wird nicht den großen Knall geben, ab dem alles nur noch digital abläuft. Es geht eher um Bausteine und Schritte. (…)  Damit am Ende alles gut wird, müssen wir mutig sein und die digitale Lösung, die nicht funktioniert, wieder abschaffen.

Stichwort Gesundheitsschutz, die Dimension psychischer Belastung: Beschäftigte quälen sich teils mit unergonomischen IT-Systemen ab, sind Fehlbeanspruchen ausgesetzt. Was kann man dann tun?

Dieses Thema wird bisher noch vernachlässigt. Ich mache zwei Beobachtungen: Erstens finden an allen Arbeitsplätzen in Unternehmen und Behörden im Zuge der Digitalisierung erhebliche Veränderungen statt. Zweitens erreichen die psychischen Erkrankungen seit Jahren immer neue Höchststände. (…) Viele Menschen wirken auf mich erschöpft.

Klar macht uns fast jede Art der Verausgabung und der Arbeit müde. Aber die Besonderheit ist, dass einige Beschäftigte an die Grenzen ihrer psychischen Leistungsfähigkeit geraten, gerade wenn Systeme ständig nicht so funktionieren, wie sie sollten. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Beschäftigten erreichen wollen oder sollen, und dem, was ihre Arbeit behindert, steigt schier ins Unermessliche. Sie werden ihren eigenen Ansprüchen – und denen der Vorgesetzten – nicht gerecht.

Bei extremem Stresserleben: Was kann Abhilfe leisten?

Die Perspektive der User Experience auf die menschliche Arbeit bedeutet: Das Nutzungserlebnis ist wichtig. Wer morgens schon auf dem Weg zur Arbeit leidet und auf dem Nachhause weg völlig fertig ist, hat das Gegenteil einer positiven User Experience bei der Anwendung digitaler Arbeitsmittel. (…)

Die Arbeitnehmer:innen wenden nach meiner Erfahrung Kompensationsstrategien an. Die einen stumpfen ab, machen nur noch minimal ihren Job; die nächsten machen sich gegenseitig kaputt, geben sich untereinander die Schuld, wenn etwas schiefläuft; wieder andere leiden und werden krank, manchmal sehr lange. Dann sind verantwortlich handelnde Führungskräfte gefragt, die sich nicht wegducken oder die den Schlamassel sogar angerichtet haben. Und natürlich sind die Interessenvertretungen aufgerufen, im Sinne der Prävention und des Gesundheitsschutzes aktiv zu werden und nicht alles laufen zu lassen.

Weitere Informationen

Das vollständige Interview mit Prof. Dr. Simon Nestler lesen (5 Seiten): »Die Anwender:innen mit ins Boot holen«, Ausgabe »Gute Arbeit« 9/2022 (S. 13-18). Außerdem im Titelthema »Arbeit im Wandel – Menschengerechte digitale Transformation« der Ausgabe lesen:

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