Verletzung beim Online-Unterricht ist Arbeitsunfall

Darum geht es
Die damals 13-jährige Klägerin nahm während der Corona-Pandemie von zuhause aus an Lehrveranstaltungen mittels Videotechnik (Homeschooling) teil. Als sie am 29.4.2021 an einer Stunde im Englischunterricht teilnahm, stand sie von ihrem Schreibtischstuhl auf, um sich ein Wörterbuch zu holen. Dabei stolperte sie und prallte mit dem Kopf gegen die Kante ihres Bettes. Dabei erlitt sie Verletzungen im Gesicht. Diese machten u.a. eine zahnärztliche Behandlung notwendig.
Die gesetzliche Unfallversicherung lehnte es mit Bescheid vom 27.5.2021 und Widerspruchsbescheid vom 23.2.2022 ab, dies als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zwar seien Schüler beim Besuch des Unterrichts unfallversichert. Es bestehe aber kein Versicherungsschutz, wenn die Schülerinnen und Schüler Tätigkeiten im Rahmen einer "Stillarbeit" selbstständig zuhause ohne Beaufsichtigung und Anleitung durch die Schule durchführen sollen. Bei der fraglichen Aufgabe seien die Kameras und Mikrofone der Schüler abgeschaltet gewesen, so dass die zuständige Lehrerin keine Aufsicht ausüben konnte.
Das sagt das Gericht
Das Sozialgericht (SG) München beurteilt dies anders: Die Klägerin falle als Schülerin unter den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 2 Abs. 1 Nr. 8 lit. b) SGB VII). Der Sturz gegen die Bettkante stelle einen Arbeitsunfall im Sinne einer »zeitlich begrenzten, von außen kommenden Einwirkung auf den Körper« dar (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).
Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Schülerin bei ihrem Sturz einer versicherten Tätigkeit nachgegangen sei bzw. ein sachlicher Zusammenhang vorgelegen habe: Der Online-Englisch-Unterricht habe 2021 im Rahmen des von der Schule angeordneten und für die Klägerin verpflichtenden Distanzunterrichts (in Form des Homeschoolings) stattgefunden.
Das Aufstehen und Herbeiholen eines Wörterbuchs stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Unterricht. Das Wörterbuch ein notwendiges Hilfsmittel für den Unterricht. Die Stillarbeit war auf einige Minuten begrenzt. Der Versicherungsschutz sei dadurch nicht unterbrochen worden. Es sei nicht entscheidend, dass Kameras und Mikrofone ausgeschaltet waren. Dies war datenschutzrechtlichen und organisatorischen Gründen geschuldet und für den Versicherungsschutz hier unschädlich. Schüler und die Lehrerin hätten sich jederzeit per Kamera und Audio hinzuschalten können – die Lehrerin habe die Unterrichtseinheit beaufsichtigt und konnte entsprechende Anweisungen geben.
Mit der Änderung der gesetzlichen Vorschriften zur Unfallversicherung habe der Gesetzgeber mittlerweile klargestellt, dass auch die Arbeit im Homeoffice in gleicher Weise versichert sei wie die Arbeit im Betrieb (§ 8 Abs. 1 Satz 3 SGB VII).
Deshalb betont das Gericht, eine frühere Grenzziehung, wonach der Schutzbereich der Schülerunfallversicherung an der eigenen/elterlichen Wohnungstür endet, sei mit der Neuregelung nicht mehr vereinbar. Dies stelle keine rechtspolitisch bedenkliche Ausweitung des Versicherungsschutzes dar, weil in den Corona-Jahren auch der Schulbetrieb durch die Anordnung von Distanzunterricht räumlich in den privaten Lebensbereich vorgedrungen sei. Das Gericht empfindet es daher als sachgerecht, den Unfallversicherungsschutz an diese veränderten Lebensumstände anzupassen.
Hinweis für die Praxis
Die Entscheidung des SG passt den Unfallversicherungsschutz beim Heimunterricht der neuen Rechtslage an und stellt insofern eine wünschenswerte Klarstellung dar. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Der Rechtsstreit könnte also noch höhere Instanzen beschäftigen, falls z. B. die Unfallversicherung ein Grundsatzurteil anstrebt.
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Quelle
Aktenzeichen S 9 U 158/22