Europäischer Gerichtshof

Deutsche Mitbestimmung mit Unionsrecht vereinbar

19. Juli 2017
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Quelle: © Sven Hoppe / Foto Dollar Club

Das Besetzen der Aufsichtsräte inländischer Unternehmen mit Arbeitnehmervertretern, wie sie das Mitbestimmungsgesetz vorschreibt, verstößt nicht gegen die Garantie der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Unionsvertrag - so der Europäische Gerichtshof (EuGH).

Anlass für den Rechtsstreit war die Klage eines Aktionärs der TUI AG, Muttergesellschaft eines Touristikkonzerns mit Sitz in Deutschland. Der Konzern beschäftigt in Deutschland rund 10.000 Personen und knapp weitere 40.000 Personen in den übrigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Die TUI AG hat einen Aufsichtsrat, der nach Maßgabe des deutschen Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG) paritätisch mit Vertretern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer besetzt ist. Die Arbeitnehmervertreter werden nach den Vorgaben des MitbestG teils von den Beschäftigten des Unternehmens bzw. ihren Delegierten gewählt.

Klage gegen Aufsichtsrat der TUI AG

Der Kläger war der Ansicht, das deutsche Mitbestimmungsgesetz verstoße gegen höherrangiges Recht. Denn dadurch, dass für den Aufsichtsrat der Muttergesellschaft nur in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer in Betracht kommen, würden die Beschäftigten der Tochtergesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedsstaaten zu Unrecht benachteiligt. Zudem könne der Verlust der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat Arbeitnehmervertreter daran hindern, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen und in eine Tochtergesellschaft in einem anderen Staat zu wechseln. Mit dieser Begründung hatte der Aktionär gegen den bestehenden Aufsichtsrat der TUI AG geklagt und beantragt, diesen ausschließlich mit Vertretern der Anteilseigner zu besetzen. Das Berliner Kammergericht hat die Frage, ob das Mitbestimmungsrecht gegen das Recht auf Freizügigkeit verstößt, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt.

EuGH sieht keinen Verstoß gegen Unionsrecht

Der EuGH hat entschieden, dass kein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit darin liegt, dass die außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer eines Konzerns vom aktiven und passiven Wahlrecht für den Aufsichtsrat des Unternehmens ausgeschlossen sind. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) garantiert. Sie gehört zu den sogenannten Grundfreiheiten der Unionsbürger im Binnenmarkt der Union.

Freizügigkeit ist keine Besitzstandsgarantie

Würden in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer der TUI-Gruppe ihre Stelle aufgeben, um in einen anderen Mitgliedsstaat zu wechseln, liege im Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts für den Aufsichtsrat kein Verletzung der Freizügigkeit. Denn diese Grundfreiheit garantiere einem Arbeitnehmer gerade nicht, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedsstaat in sozialer Hinsicht neutral sei.

Aufgrund der Unterschiede zwischen den Systemen und Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten könnten sich für Arbeitnehmer im Einzelfall Vorteile oder Nachteile ergeben. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gebe dem Arbeitnehmer aber nicht das Recht, sich in jedem Mitgliedstaat azuf die Arbeitsbedingungen zu berufen, die ihm in seinem Herkunftsmitgliedsstaat zugestanden hätten.

Dass das Mitbestimmungsgesetz die Mitgliedschaft eines Arbeitnehmervertreters im Aufsichtsrat an dessen Arbeit im Inland knüpft, sei keine Diskriminierung, sondern eine legitime Entscheidung des deutschen Gesetzgebers.

»Großer Erfolg für die Demokratie in der Wirtschaft«

Die Gewerkschaften begrüßen die Entscheidung. Die deutschen Mitbestimmungskritiker hätten in Luxemburg Schiffbruch erlitten, sagte Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Vorstands der Hans-Böckler-Stiftung. »Dieses Urteil ist ein großer Erfolg für die Demokratie in der Wirtschaft. Diese gilt es nun zu sichern und auszubauen. Der Ball liegt im Spielfeld der Politik, die auf europäischer wie auf deutscher Ebene das Erfolgsmodell Mitbestimmung an aktuelle Herausforderungen anpassen muss.« so Hoffmann.

Arbeitnehmerfreizügigkeit:

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

Art. 45

(ex-Artikel 39 EGV)

(1) Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.

(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen. (3) Sie gibt - vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen - den Arbeitnehmern das Recht, a)     sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben; b)     sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen; c)     sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben; d)     nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission durch Verordnungen festlegt.

(4) Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.

© bund-verlag.de (ck)
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