Entgeltfortzahlung

BAG: Wann Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestehen

15. Dezember 2023
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Quelle: nmann77_Dollarphotoclub

In aller Regel beweist die ärztliche AU-Bescheinigung, dass ein Arbeitnehmer tatsächlich erkrankt ist und nicht arbeiten kann. Ausnahmsweise ist dieser Beweiswert erschüttert. Dann muss der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit selbst beweisen – so das Bundesarbeitsgericht.

Darum geht es

Der Arbeitnehmer war seit März 2021 als Helfer bei seiner Arbeitgeberin, einer Zeitarbeitsfirma, beschäftigt. Er legte am Montag, dem 2. Mai 2022, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022 mit einem Schreiben vom 2. Mai 2022, das dem Arbeitnehmer am 3. Mai 2022 zuging. Der Arbeitnehmer reichte Folgebescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 ein, die seine Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. Mai 2022 und bis zum 31. Mai 2022 (einem Dienstag) bescheinigten.

Ab dem 1. Juni 2022 war der Helfer wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf. Die Zeitarbeitsfirma verweigerte ihm die Entgeltfortzahlung für den Mai 2022. Sie meinte, der Beweiswert der vorgelegten AU-Bescheinigungen sei erschüttert, weil diese passgenau die Kündigungsfrist des Arbeitnehmers abgedeckt hätten. Dem widersprach der Arbeitnehmer: Seine Arbeitsunfähigkeit habe bereits vor dem Zugang der Kündigung bestanden. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben seiner Klage auf Entgeltfortzahlung für den Mai 2022 stattgegeben (zuletzt LAG Niedersachsen, 8.3.2023 – 8 Sa 859/22 –).

Das sagt das BAG

In der Revision hatte die beklagte Leiharbeitsfirma teilweise Erfolg – das BAG sah den Beweiswert der ärztlichen Bescheinigungen für den Zeitraum vom 7. bis zum 31. Mai 2022 als erschüttert an.

Ein Arbeitnehmer kann die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit (AU) mit ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen AU-Bescheinigungen nachweisen. Diese sind das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Deren Beweiswert kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben.

Solche "ernsthaften Zweifel" sieht das BAG für den Fall als berechtigt an, dass ein krankgemeldeter Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.

Das Berufungsgericht habe richtig erkannt, dass für die Bescheinigung vom 2. Mai 2022 der Beweiswert nicht erschüttert ist. Der Kläger hatte, als er die AU-Bescheinigung vorlegte, keine Kenntnis von der beabsichtigten Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Bezüglich der folgenden AU-Bescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 sei der Beweiswert dagegen erschüttert, so das BAG. Das LAG hätte den Beweiswert auch der Folgebescheinigungen einzeln abwägen und dabei berücksichtigen müssen, dass diese sich passgenau mit der Kündigungsfrist des Klägers decken, und dass er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen hat.

Diese Erschütterung hat zur Folge, dass nunmehr der Kläger für die Zeit vom 7. bis zum 31. Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast trägt, dass er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war, wenn er seinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung (§ 3 Abs. 1 EFZG) durchsetzen will. Da diese Frage in der Beweisaufnahme nicht geprüft wurde, hat das BAG das Verfahren insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.

Hinweis für die Praxis

Die ärztliche AU-Bescheinigung hat hohen Beweiswert, nur wenn dieser erschüttert ist, z. B. weil die Krankschreibungen so wirken, als seien sie zeitlich „passgenau“ ausgestellt, um eine Kündigungsfrist abzudecken, muss der Arbeitnehmer auf Verlangen des Arbeitgebers weitere Beweise erbringen. Das kann geschehen, indem er sich an seine Krankenversicherung wendet und eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkasse beantragt.

© bund-verlag.de (ck)

Quelle

BAG (13.12.2023)
Aktenzeichen 5 AZR 137/23
BAG, Pressemitteilung vom 13.12.2023
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