DER SPIEGEL berichtet

Silber-Preisträger: Dreimal insolvent, aber Weltmarktführer

01. Dezember 2020
Silber_HWK

Wie Betriebsrat Fred Behr mit einem Kneipenwirt einen Businessplan erstellte und das 654 Jahre alte Hüttenwerk Königsbronn zum "wahrscheinlich ältsten Start-up der Welt" machte. SPIEGEL-Redakteurin Barbara Supp berichtet von Mut, Entschlossenheit und Solidarität der Belegschaft eines mittelständischen Unternehmens.

Der Artikel in Auszügen:

In der Nische einer Hallenwand, im Halbdunkel, steht die heilige Barbara, und vor ihr steht Fred Behr, der Werksleiter des Königsbronner Hüttenwerks, und erzählt vom letzten, vom allerletzten Tag, so dachten sie damals jedenfalls. Als Kollegen sagten: Nimm sie mit, es ist vorbei, nach 654 Jahren. Nimm du die Barbara mit nach Hause. Was er tat.

Und jetzt ist sie wieder hier, an ihrem Platz.

Vom »Wunder von Königsbronn« ist manchmal die Rede, andere nennen es »Wiederauferstehung«, und die Geschichte, die erzählt wird, geht so: Es war einmal eine kleine Gießerei auf der Schwäbischen Alb, das älteste Industrieunternehmen Deutschlands. Von Mönchen gegründet, weltmarkttauglich, Weltmarktführer sogar, aber seit 2013 dreimal in der Insolvenz. (…)

Das hier ist Mittelstand, klein und regional. Aber die Fragen, die Fred Behr, der Werksleiter, und seine Leute sich stellen, stellen sich anderswo auch, gerade in diesem Jahr. Ob Insolvenz bedeuten muss: nicht mehr zu retten, muss abgewickelt werden. Oder ob man es fertigbringt, dass die Kundschaft, ebenso wie die Belegschaft, wieder an das Unternehmen glaubt. Und wie man erkennt, ob ein Investor als Retter kommt, der das Unternehmen nicht ausschlachten, sondern tatsächlich weiterführen will. (…)

Behr sagt, er sei in vierter Generation im Hüttenwerk. Er stammt aus einer der vielen Arbeiterdynastien im Ort. Als er anfing, 1977, hieß das Unternehmen noch Schwäbische Hüttenwerke; ein Name, auf den man stolz war. (…)

Behr, seit 1988 im Betriebsrat, seit 1992 Betriebsratsvorsitzender, war es gewohnt, seine Firma als Weltmarktchampion zu betrachten und nicht als Unternehmen, das ums Überleben kämpft. Aber dann, sagt er, »hat es uns erwischt«.

Es: Das war zunächst einmal der Zeitgeist, Anfang dieses Jahrhunderts, der Staatsbeteiligungen missbilligte und wo immer möglich Privatisierung empfahl. Das Unternehmen gehörte damals zur Hälfte dem Land Baden-Württemberg, zur anderen Hälfte dem Mischkonzern MAN, und die schwarz-gelbe Landesregierung folgte dem Trend, sich von Staatsbeteiligungen zu verabschieden – auch wenn sie profitabel waren. Königsbronn war Teil eines Firmengeflechts, das neben Autoteilen, Werkzeugmaschinen, Motorblöcken eben auch Walzen produzierte. Und die wollte man loswerden.

Es kam eine Abfolge von Investoren nach Königsbronn, und das Wort »Investor« erhielt von Mal zu Mal einen bedrohlicheren Klang. (…)

Als der Dritte, Ende 2018, nach Insolvenz Nummer drei das Unternehmen verließ, gehörten den Königsbronnern auch ihre Maschinen nicht mehr.

Es war nichts mehr da. Nur noch das Können der Arbeiter und Ingenieure. Und ein Markt, der nach Kalanderwalzen verlangte – aus Königsbronn.

Schon tragisch, mit vollen Auftragsbüchern in die Insolvenz zu gehen. (…)

Die Hallen leerten sich, immer mehr der rund 160 Mitarbeiter wurden freigestellt. Ein letzter Umtrunk in der Wuchthalle, es wurde noch mal gegrillt, die Leute hielten sich fest an ihrem Bier.

Tage vorher hat Behrs Sohn von einem Mann namens Meyer erzählt. Der Wirt vom Gleis III. Der wolle mit Behr über das Hüttenwerk reden.

Was sagte Behr seinem Sohn?

»Des hier isch koi Kneipe.«

Behr kannte den Meyer nicht, Behr trinkt keinen Alkohol, er geht gern mal schön essen mit seiner Frau, aber er ist kein Kneipengänger. Nun stand da der Kneipenwirt beim Abschiedstrunk in einer Ecke mit seinem Bier. »Moinsch net«, sagt dieser Andi Meyer, »mer kann des Ding retten? Hasch mir a paar Zahlen?«

Meyer kriegte ein paar Zahlen, nichts Geheimes, nur Umsätze, Lohnkosten, und meldete sich ein paar Tage später bei Fred Behr: »Komm am Sonntag zum Mittagessen.« Wieso? »Ich zeig dir was.«

Behr war jahrzehntelang Betriebsratsvorsitzender, er weiß, wie ein Businessplan aussieht, und was da in Meyers Wohnzimmer lag, sagt er, das war einer. (…)

Rettungspläne entstehen normalerweise in Büroetagen, bei Insolvenzverwaltern, bei Investoren, nicht im Wohnzimmer eines Kneipenwirts. Aber mit den Rettungsplänen aus den Büroetagen klappte es in Königsbronn irgendwie nicht. Meyer sah aus seinem Gleis III über die Jahre, was auf der anderen Straßenseite verschwand. Alte Gebäude. Mitarbeiter. »Reschpekt«, so sagten sie in den Hallen. Respekt vor dem Handwerk, vor dem, was sie leisteten. Nach der Arbeit kamen die Leute oft über die Straße und trugen ihre Sorgen zu ihm, zum Bier. (…)

»Zahlenkasper«. Das ist ein Wort von Fred Behr. Der Meyer konnte mit Zahlen jonglieren, »die ich nie verstehen werde«, sagt Behr. Zusammen rechneten sie nach jenem Sonntag weiter – Behr rechnete das, was mit Technik und Personal zu tun hatte, Meyer alles andere. (…)

Ein Interessent lief damals ebenfalls noch durch die Hallen, in allerletzter Minute sozusagen; nicht vom Insolvenzverwalter vermittelt, sondern von der IG Metall. (…)

Das Hüttenwerk, sagt Meyer, verwandelte sich in das »wahrscheinlich älteste Start-up der Welt«.

One Square macht »Auffanglösungen«, so nennt die Firma das selbst. Sie sind keine üblichen Investoren. Sie bringen vor allem Know-how. Sie wissen, wie mit Geschäftspartnern umzugehen ist, wie man funktionierende Verträge aufsetzt und Verhandlungen führt, Großkunden dazu bringt, dass sie in Vorkasse gehen. Sie steigen nicht mit Geld ein, sondern mit Erfahrung. Zu zwei Dritteln ist das Werk nun im Besitz von One-Square-Leuten, zu einem Drittel im Besitz der Belegschaft. Was bedeutet, dass die Belegschaft – falls eines Tages Gewinne ausgeschüttet werden sollten – davon direkt profitiert. (…)

Fred Behr ist Werksleiter geworden, er hat einerseits mit One Square zu tun und andererseits mit einer Belegschaft, die schnell misstrauisch wird: Sind das wirklich die Guten?

Er denkt an den Tag, an dem er 160 Leuten erklärt hat, dass es weitergeht: Es gab »Mordsjubel«. Seine zweite Botschaft war, dass die Rettung nur für 80 Leute galt.

Danach saß er erst mit den Betriebsräten und dann mit den Vorgesetzten zusammen, erstellte Listen: Der Mann hier ist eh kurz vor der Rente. Der andere da ist jung, Zerspanungsmechaniker, der hat schnell wieder Arbeit. Den hier brauchen wir, ohne den geht's nicht. Der hier ist älter, der findet draußen nichts, hier macht er einen guten Job. Die Allerersten, die gingen und weitervermittelt werden konnten, waren die Auszubildenden. Einer davon: Behrs jüngster Sohn.

Eine Woche lang hat Behr Gespräche geführt, die Leute warteten, »wie beim Doktor«. Manche sagten: Ihr wollt mich, aber ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, nach drei Insolvenzen. Ein anderer sagte: Ich hätte einen neuen Job, aber jeden Tag am Hüttenwerk vorbeizufahren, das schaffe ich nicht. (…)

Behr war es, fast ein gesamtes Berufsleben lang, und nun muss er herausfinden, wie viel Betriebsratsvorsitzender in einem Werksleiter noch stecken darf. Er trifft Entscheidungen, die mancher von ihm nicht erwartet hätte. Harte Entscheidungen.

Er weiß, dass er die Rettung des Werks nicht zuletzt einer solchen harten Entscheidung verdankt.

Der Mordsjubel damals wurde leise, als klar wurde, dass nur die Hälfte der Belegschaft bleiben konnte.

An diejenigen, die gehen mussten, hatte Behr eine Bitte. »Wenn einer von euch klagt«, sagte er, »dann geht's nicht mehr. Wir haben kein Geld, um Abfindungen zu bezahlen.«

Sie sollten unterscheiben, dass sie nicht vor Gericht gehen würden. Er bekam ihn gewährt: diesen letzten Akt der Solidarität. (…)

Anfang November erhielt der Betriebsrat der Hüttenwerke Königsbronn, und rückwirkend auch Behr, den »Deutschen Betriebsräte-Preis 2020« in Silber. Es ist ein Preis für die Rettung des Werks.
 

► Zum ausführlichen Artikel
"Dreimal insolvent, aber Weltmarktführer" in DER SPIEGEL v. 20.11.2020

► Mehr Infos zum Projekt

 




Foto: Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG Metall verleiht Fred Behr den Silberpreis auf dem größtenteils digital ablaufenden Deutschen BetriebsräteTag in Bonn

 

AiB-Banner Viertel Quadratisch - Anzeige -

Das könnte Sie auch interessieren

Lieferkette Produktion Transport Logistik supply chain
Lieferkettengesetz - Aktuelles

Europäisches Lieferkettengesetz kommt

Brille Tastatur Computer Bildschirmarbeit
Gesundheitsschutz - Aus den Fachzeitschriften

7 Fragen zur Bildschirmbrille