Arbeitszeit

EuGH entscheidet über Rufbereitschaft

09. Oktober 2020
Feuerwehr Brand Feuer firefighters
Quelle: Pixabay | Bild von skeeze

Wann gilt Rufbereitschaft als Arbeitszeit? Diese Frage ist wichtig wegen der gesetzlichen Grenzen der Arbeitszeit, die nicht überschritten werden dürfen, aber auch für das Arbeitsentgelt. Beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) sind dazu zwei Verfahren anhängig – eins betrifft einen Feuerwehrmann aus Deutschland. Hier lesen Sie, wie der zuständige Generalanwalt beim EuGH die Verfahren sieht.

In beiden beim EuGH anhängigen Verfahren ist der Generalanwalt Pitruzzella zuständig. Seine Anträge bereiten die Entscheidungen des EuGH vor. Bei der Rufbereitschaft des Feuerwehrmanns aus Deutschland führt er gewichtige Gründe an, sie als Arbeitszeit zu werten.

 

Verfahren 1: Feuerwehrmann in Offenbach

In einem Verfahren geht es um einen Feuerwehrmann bei der Stadt Offenbach am Main. Er muss regelmäßig Rufbereitschaftsdienst leisten. Das heißt, er muss ständig erreichbar sein, seine Einsatzkleidung mit sich führen und ein vom Arbeitgeber zur Verfügung gestelltes Einsatzfahrzeug bereithalten. Er muss Anrufe entgegennehmen, durch die er über Ereignisse informiert wird und zu denen er Entscheidungen zu treffen hat. Er muss sich nicht an einem genau bestimmten Ort aufhalten, aber er muss seinen Aufenthaltsort so wählen, dass er im Einsatzfall in Einsatzkleidung und mit dem Einsatzfahrzeug innerhalb von 2o Minuten die Stadtgrenze von Offenbach erreicht. Der Feuerwehrmann beantragte die Anerkennung der Rufbereitschaft als Arbeitszeit und die entsprechende Vergütung. Die Stadt lehnte ab. Dagegen zog er vor das Verwaltungsgericht Darmstadt. Das Verwaltungsgericht Darmstadt legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Verfahren 2: Sendetechniker in Slowenien

Im anderen Verfahren geht es um einen Sendetechniker in Slowenien. Die Sendeanlage, in der er beschäftigt war, liegt im Hochgebirge und ist weit von Wohngebieten entfernt. Sie ist über eine Seilbahn mit dem Tal verbunden, die nur zu bestimmten Zeiten in Betrieb ist. Auch er musste Rufbereitschaftsdienst leisten. Das hieß in seinem Fall, dass er im Bedarfsfall binnen einer Stunde am Arbeitsplatz sein musste. Wie dem Feuerwehrmann war ihm für die Rufbereitschaft kein bestimmter Aufenthaltsort vorgeschrieben; wegen der Abgelegenheit der Sendeanlage konnte er aber während der Rufbereitschaftszeiten seinen gewöhnlichen Wohnsitz nicht erreichen, sondern lebte praktisch in der Sendeanlage, wo Küche, Aufenthaltsraum, Ruheraum und Badezimmer zur Verfügung stehen. Der Sendetechniker erhob Klage auf Bezahlung für die Zeiten der Rufbereitschaft zum gleichen Tarif wie für Überstunden. Er verlor in erster und zweiter Instanz. Die dritte Instanz, der Oberste Gerichtshof von Slowenien, legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Die Vorlagefragen an den Europäischen Gerichtshof

Das Verwaltungsgericht Darmstadt fragt, ob Rufbereitschaft nach der europäischen Arbeitszeitrichtlinie und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Arbeitszeit anzusehen ist, wenn, wie im Ausgangsfall, zwar kein bestimmter Aufenthaltsort für die Rufbereitschaftszeit vorgegeben ist, der Arbeitnehmer aber durch den knappen Zeitrahmen bis zu einem möglichen Einsatz in seiner Ortswahl und den Möglichkeiten, sich seinen Interessen zu widmen, erheblich eingeschränkt ist. Zudem fragt er, ob es für die Beurteilung eine Rolle spielt, ob während der Rufbereitschaft regelmäßig mit einem Einsatz zu rechnen ist.

Der Oberste Gerichtshof von Slowenien fragt, ob Bereitschaftsdienst unter den Umständen des Ausgangsfalls, insbesondere der geografischen Abgelegenheit des Arbeitsplatzes, wo der Arbeitnehmer auch in der Gestaltung seiner Freizeit stark eingeschränkt ist, als Arbeitszeit anzusehen ist.

Ausführungen des Generalanwalts

Feuerwehrmann: Rufbereitschaft könnte Arbeitszeit sein

Im Falle des Feuerwehrmannes spricht die Schnelligkeit, mit der er im Bedarfsfall in Dienstkleidung am Stadtrand von Offenbach sein muss, dafür, dass die Rufbereitschaft Arbeitszeit ist. Dass der Aufenthaltsort nicht festgelegt ist, spricht nur auf den ersten Blick dagegen, denn es liegt auf der Hand, dass eine sehr kurze Reaktionszeit vom Arbeitnehmer verlangt, sich während der Rufbereitschaft in einem bestimmten geographischen Umkreis, der im Wesentlichen vom Arbeitgeber bestimmt wird, aufzuhalten.

Die entscheidende Rolle kommt der Intensität der Einschränkungen durch die Unterwerfung unter die Weisungen des Arbeitgebers zu. Da im Vorlagefall aber die freie Wahl des Ortes, an dem der Arbeitnehmer die Rufbereitschaftszeit verbringt, nicht (fast) völlig verhindert wird, können zusätzliche Kriterien herangezogen werden.

Der Generalanwalt erwähnt mehrere Kriterien, die er für nicht geeignet, weil zu subjektiv, hält: Zu überwindende Entfernung zum Arbeitsort, Grad der Verantwortung und spezifische Aufgaben des Arbeitnehmers, psychologischer Druck.

Geeignete Kriterien seien aber:

  • Handlungsspielraum des Arbeitnehmers
    • (kann dieser im Bedarfsfall durch einen anderen Arbeitnehmer ersetzt werden, der bereits vor Ort oder näher ist;
    • wie hoch sind die Sanktionen, wenn man nicht binnen der vorgegebenen Zeit vor Ort ist,
    • Notwendigkeit, Einsatzkleidung zu tragen)
  • oder die durch den Arbeitgeber festgelegte zeitliche Lage, Häufigkeit und Dauer der Rufbereitschaften,
  • aber auch die Häufigkeit der Einsätze während der Rufbereitschaften.

Die Tatsachenfeststellungen sind Sache des vorlegenden nationalen Gerichts, aber wenn diese das Vorliegen einiger der Indizien ergeben, die zusammen mit der Kürze der Reaktionszeit dazu führen, dass die tatsächliche Ruhezeit des Arbeitnehmers nicht sichergestellt ist, dann, so der Generalanwalt, »könnten die Zeiten der Rufbereitschaft als Arbeitszeit eingestuft werden«.

 

Sendetechniker: Rufbereitschaft engt Arbeitnehmer wenig ein

Anders aber im Fall des Sendetechnikers. Hier ist der Generalanwalt der Ansicht, die Rufbereitschaft sei nicht als Arbeitszeit anzusehen. Wie im Fall des Feuerwehrmanns werde der Aufenthaltsort während der Rufbereitschaft nicht vom Arbeitgeber festgelegt. Die Zeit bis zum etwaigen Arbeitsantritt sei mit einer Stunde so bemessen, dass im Einsatzfall eine sofortige Reaktion nicht erforderlich sei. Die geografische Besonderheit des Arbeitsortes kann laut Generalanwalt nichts an der Einstufung der Zeiten ändern.

Schließlich gebe es so manche Situationen, in denen der Arbeitnehmer weit von Wohngebieten entfernt sei, z. B. auf Ölplattformen oder bei der Arbeit auf See. Die Entfernung zwischen Wohnsitz und Arbeitsort könne keine Rolle spielen. Außerdem ermöglichten es moderne Technologien viel mehr als in der Vergangenheit, auch von Weitem mit seinen Familienangehörigen und seinen Neigungen verbunden zu bleiben.

Kriterien wie »Qualität der verbrachten Zeit« oder Grad der Verantwortung und des psychologischen Drucks lehnt der Generalanwalt als zu subjektiv ab. Eine Rolle könne dagegen spielen, ob und inwieweit der Arbeitnehmer damit rechnen muss, während der Rufbereitschaft zu Einsatz gerufen zu werden. Die Prüfung der tatsächlichen Umstände ist Sache des nationalen Gerichts.

Wie geht es weiter?

Die Anträge des Generalanwalts sind noch kein Urteil. Es kann nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden, wie die Urteile letzten Endes ausfallen werden. Es wird darauf ankommen, für wie überzeugend der Gerichtshof die Meinung hält, es komme für die Beurteilung des Arbeitszeitcharakters von Rufbereitschaftszeiten darauf an, ob und inwieweit der Arbeitgeber über die vorliegenden Umstände der Rufbereitschaft im Rahmen seines Weisungsrechts entschieden habe (so bei der Bestimmung, wie schnell man gegebenenfalls vor Ort sein muss, dass man dann bereits in Einsatzkleidung sein muss usw., nicht aber beispielsweise bei der Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort oder der mangelnden Freizeitqualität).

Gerade das Beispiel der Ölplattform führt die Argumentation des Generalanwalts ein bisschen ins Absurde: Sogar, wenn ausdrücklich freie Wahl des Aufenthaltsortes im Vertrag steht – wenn der Arbeitnehmer nicht gerade schwimmen will, ist sie in Wirklichkeit nicht gegeben. Der Arbeitgeber braucht da gar kein Weisungsrecht.

Umgekehrt könnten ja auch die Zeiten und Konditionen bis zum Einrücken im Einsatzfall gerade nicht durch Ausübung des Weisungsrechts, sondern durch den Arbeitsvertrag, Tarifverträge oder gar durch Gesetz festgelegt sein. Letzteres ist im Feuerwehrfall sogar gegeben. In der Anlage zur »Verordnung über die Organisation, Mindeststärke und Ausrüstung der öffentlichen Feuerwehren« vom 17. Dezember 2013 heißt es: »Die Ausrüstung der Stufe 2 einschließlich des dafür notwendigen Personals ist in der Regel innerhalt von 20 Minuten nach der Alarmierung am Einsatzort einzusetzen …« Man darf also auf die Urteile des EuGH gespannt sein. Auch, wie schnell der EuGH entscheiden wird, ist eine interessante Frage.

Nach den ebenfalls in Bund Online vorgestellten Anträgen des Generalanwalts Pitruzzella vom 13. Februar 2020 in der Rechtssache C-107/19, XR gegen Dopravní podnik hl. m. Prahy a.s., wo es ebenfalls um Arbeitszeitrecht ging, ist bis heute, den 9. Oktober 2020, kein Urteil ergangen, wobei das in anderen Fällen viel schneller geht.

Torsten Walter, LL.M. (Leicester), DGB Bundesvorstand

Quelle

EuGH (06.10.2020)
Aktenzeichen C-580/19, C-344/19
EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Giovanni Pitruzzella vom 6. Oktober 2020 in den Rechtssachen C-580/19, JR gegen Stadt Offenbach am Main und C-344/19, D.J. gegen Radiotelevizija Slovenija.
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