Schwerbehinderung

Mehr Mitsprache für Beschäftigte mit Handicap

19. August 2015

Gewerkschaften, Sozialverbände und Schwerbehindertenvertretungen (SBV) fordern Neuerungen beim Schwerbehindertenrecht. Von einer Reform soll vor allem die SBV profitieren – zum Wohle der Beschäftigten.

Im Herbst – so die derzeitige Planung – wird sich die Bundesregierung mit dem Schwerbehindertenrecht befassen und einige Gesetzesänderungen auf den Weg bringen. In einer gemeinsamen Erklärung stellen der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB sowie Sozial- und Behindertenverbände die eigenen Vorschläge für eine behindertengerechtere Arbeitswelt vor.

Denn Schwerbehinderte müssen besser in den Arbeitsmarkt integriert werden, das hat auch die Bundesregierung erkannt. Im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode heißt es: »Wir wollen die Integration von Menschen mit Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt begleiten und so die Beschäftigungssituation nachhaltig verbessern. Dazu gehört auch die Anerkennung und Stärkung des ehrenamtlichen Engagements der Schwerbehindertenvertretungen«.

Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung

Die Schwerbehindertenvertretung (SBV) sorgt – neben Betriebsrat und Personalrat – dafür, dass die Belange von schwerbehinderten Beschäftigten gewahrt werden, etwa bei der Ausgestaltung von Arbeitsplätzen, Arbeitszeiten, Einstellungen, Eingruppierungen und Kündigungen von schwerbehinderten Menschen. Die Rechtsgrundlagen für die Wahl und die Rechte der SBV sind im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) geregelt. Die Wahlen zur Schwerbehindertenvertretung finden regelmäßig alle vier Jahre statt, zuletzt im Jahr 2014. Abweichungen von diesem Vier-Jahres-Rhythmus können durch Ungültigkeit der Wahlen, erstmalige Wahl oder Erlöschen des Amts der Vertrauensperson entstehen.

Wie eine Stärkung der Schwerbehindtenvertretung aussehen könnte, war bereits im Oktober 2014 anlässlich der Wahlen für dieses Gremium Thema eines Workshops des Bundesarbeitsministeriums mit Staatssekretär Jörg Asmussen und Verena Bentele, der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen.

Forderung: Arbeitgeber stärker in die Pflicht nehmen

In ihrer gemeinsamen Erklärung haben die Gewerkschaften, Sozialverbände und Schwerbehindertenvertretungen jetzt ihre Reformvorschläge konkretisiert. Unter anderem machen sich die Unterzeichner der Erklärung – der Arbeitskreis der Schwerbehindertenvertretungen der Automobilindustrie, die Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen der Länder (AGSV-L), die Bundesarbeitsgemeinschaft der betrieblichen Schwerbehindertenvertretungen in Deutschland (BbSD), die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, die Sozialverbände SoVD und VdK sowie der DGB – dafür stark, dass Freistellungsregelungen für Schwerbehindertenvertreter schon bei einer niedrigeren Zahl von schwerbehinderten Beschäftigten greifen. Hier ist vor allem § 96 SGB IX Ziel von Verbesserungsvorschlägen. Bei 100 statt bisher 200 schwerbehinderten Beschäftigen sollen die normierten Freistellungsregelungen greifen. Auch die Heranziehung der Stellvertreter der SBV soll erleichtert und ein eigenständiger Schulungsanspruch ins Gesetz aufgenommen werden.

Beteiligungsrechte sollen gestärkt werden

Außerdem ist die Durchsetzung der Beteiligungsrechte der SBV ein zentrales Anliegen. Sowohl Sanktionen im Falle der Nicht-Beteiligung seitens der Arbeitgeber als auch die Möglichkeit, eine Einigungsstelle anzurufen, wenn Integrationsvereinbarungen (wie häufig in der Praxis) zu scheitern drohen, sind in dem Papier genannt. Ebenfalls genannt ist die Aufnahme eines Übergangsmandats ins Gesetz, mit dem gewährleistet werden soll, dass im Falle von Betriebsschließungen die SBV weiter handlungsfähig bleibt.

Das sind die Forderungen im Überblick:

  1. Verbesserte Freistellungs-, Vertretungs- und Schulungsansprüche
  2. Sicherstellung der Informations- und Anhörungsrechte der SBV
  3. Verbindlichkeit von Integrationsvereinbarungen
  4. Übergangsmandat auch für die SBV
  5. Erhöhung der Ausgleichsabgabe für die Betriebe

Der fünfte Punkt betrifft ein besonders wichtiges Anliegen auf der Prioritätenliste: die Verringerung der »anhaltend hohe Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen«, wie es in der Erklärung heißt. Das soll durch mehr Druck auf Unternehmen erreicht werden, die ihrer Verpflichtung, Schwerbehinderte zu beschäftigen nicht nachkommen. Laut DGB hat sich die Zahl der langzeitabrbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderung seit 2008 von 104 000 auf 112 000 erhöht. Vor allem Ältere sind gefährdet, dauerhaft keine Anstellung mehr zu finden. Komme zu der Schwerbehinderung ein höheres Alter, seien die Chancen auf eine neue Beschäftigung äußerst gering. Über 55-Jährige seien oftmals deutlich länger als zwölf Monate arbeitslos.

Höhere Ausgleichsabgabe soll mehr Beschäftigung bringen

Dazu kommt, dass rund 38 500 Betriebe keine Schwerbehinderten einstellen – obwohl sie dazu verpflichtet sind.

Denn § 71 SGB IX regelt die Beschäftigungspflicht. Grundsätzlich gilt: Private und öffentliche Arbeitgeber (Arbeitgeber) mit jahresdurchschnittlich monatlich mindestens 20 Arbeitsplätzen im Sinne des § 73 haben auf wenigstens 5 Prozent der Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Dabei sind schwerbehinderte Frauen besonders zu berücksichtigen.

Abweichend von Satz 1 haben Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich weniger als 40 Arbeitsplätzen jahresdurchschnittlich je Monat einen schwerbehinderten Menschen, Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich weniger als 60 Arbeitsplätzen jahresdurchschnittlich je Monat zwei schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen.

Kommen Arbeitgeber oder Dienstherren dieser normierten Beschäftigungspflicht nicht nach, wird eine Ausgleichsabgabe fällig, § 77 SGB IX. Hier wollen der DGB und die an der Erklärung beteiligten Organisationen ansetzen. »Unternehmen, die ihrer gesetzlichen Beschäftigungspflicht gar nicht oder nur in geringem Umfang nachkommen, benötigen stärkere Anreize, um diese Haltung zu ändern. Ein wirkungsvoller Anreiz wäre es, die gestaffelte Ausgleichsabgabe für diese Unternehmen deutlich zu erhöhen«.

Was sich zunächst wie ein wirksames Mittel darstellt, wirft allerdings eine grundsätzliche Frage auf: Warum müssen Strafzahlungen erhoben werden, um Menschen mit Handicap ins Berufsleben zu integrieren und vor Arbeitslosigkeit zu schützen? Hier scheint nicht nur eine Novellierung des Schwerbehindertenrechts von Nöten, sondern ein rasches Umdenken innerhalb der Gesellschaft.

Die vollständige Erklärung finden Sie hier.

© bund-verlag.de (mst)

Das könnte Sie auch interessieren