Aktuell in "Der Personalrat"

Toleranz und Respekt

17. Januar 2022
SBV_092

Sonderpreis SBV: Die Schwerbehindertenvertretung des MD Bayern vereinbart umfassende Regelungen zur Inklusion – von der Einstellung über die Fortbildung bis hin zur Berücksichtigung der Barrierefreiheit.

Die Rechtslage ist eindeutig. Nach § 166 Sozialgesetzbuch (SGB) IX ist der Arbeitgeber verpflichtet – zusammen mit der  Schwerbehindertenvertretung (SBV) und dem Personalrat –, eine verbindliche Inklusionsvereinbarung zu treffen. Soweit die Papierform. Für Dr. med. Matthias Günzel, Vertrauensperson der Schwerbehinderten beim Medizinischen Dienst Bayern (MD Bayern), stand dieses Thema seit Anfang 2020 auf der Agenda. Der Mediziner, bereits seit über 20 Jahren für diese Körperschaft des öffentlichen Diensts tätig, stellte sich nun die Frage, wie die einzelnen rechtlichen Vorgaben durch eine Inklusionsvereinbarung mit konkretem Leben gefüllt werden konnten. Zwar gab es bereits eine Vielzahl von Dienstvereinbarungen im Haus, in denen auch die Belange der schwerbehinderten Kolleginnen und Kollegen mit aufgeführt und berücksichtigt wurden, doch eine entsprechende Vereinbarung für diese Mitarbeitergruppe fehlte bislang. Der MD Bayern (bis zum 30.6.2021 Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Bayern) ist der sozialmedizinische und pflegefachliche Beratungs- und Begutachtungsdienst der Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung mit über 10 Millionen Versicherten in Bayern.


Schulterschluss mit Personalrat

Beschäftigt werden derzeit knapp 1600 Menschen an 24 Orten. Etwa 10% der Arbeitsplätze sind mit Stand November 2021 mit Schwerbehinderten  besetzt. Die SBV wollte nun eine Inklusionsvereinbarung im Unternehmen installieren, um die Beschäftigten des MD Bayern für die Belange von Schwerbehinderten zu sensibilisieren und gleichzeitig die gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen auf die Situation im Unternehmen zu spezifizieren. Weiterhin sollten ergänzend dazu Abläufe festgelegt werden, die der Beschäftigungssicherung, dem speziellen Gesundheits- und Arbeitsschutz von Schwerbehinderten und möglichen künftigen Änderungen in der Arbeitsorganisation Rechnung tragen. Nach einer Schulung durch das Inklusionsamt, nahm die SBV Kontakt mit Schwerbehindertenvertretungen in vergleichbarer Situation auf. Die SBV arbeitete zudem im Arbeitsschutzausschuss mit. Anfang 2020 legte Günzel mit seinen beiden Gremiumskollegen den Entwurf einer Inklusionsvereinbarung vor. Dieser wurde dann mit der Schwerbehindertenbeauftragten und der Personalabteilung diskutiert und dann intensiv und im Schulterschluss mit dem Gesamtpersonalrat besprochen. Die Gespräche liefen dabei auf allen Ebenen auf Augenhöhe ab. »Insgesamt«, so Günzel, »herrschte ein sehr vertrauensvoller Umgang. Streitpunkte gab es nur wenige. Es herrschte Offenheit für das Thema.« So diskutierten die Parteien u. a., wie genau die Barrierefreiheit in der Inklusionsvereinbarung ausformuliert werden sollte. Beispielsweise wollte sich das Gebäudemanagement nicht 1:1 alles vorschreiben lassen. Entsprechend frei wurde die Barrierefreiheit von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten formuliert. Günzel, gelernter Krankenpfleger und Arzt für Orthopädie, warf dabei berufsbedingt immer auch einen scharfen Blick auf die technische und bauliche Situation vor Ort: Wie ist beispielsweise der Zugang für Rollstuhlfahrer beschaffen, auf welcher Höhe befinden sich Klingeln, wie funktional ist die Bedienung der Alarmfunktion in Behindertentoiletten. Eine Vielzahl von Details, die in Summe ein Gesamtbild ergeben.

Berufliche Weiterbildung im Fokus

Im Mai 2021 unterzeichneten die Parteien die Inklusionsvereinbarung, die erste dieser Art beim MD Bayern. Damit erreichte die SBV einen umfassenden Schutz von schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Menschen. Abläufe und Vorgänge für den Kreis der Beschäftigten  werden jetzt unternehmensspezifisch und arbeitsplatznah definiert und die Mitwirkung von Personalrat und SBV wird sichergestellt. Besonders stolz ist die SBV, dass schwerbehinderte Beschäftigte jetzt einen Anspruch auf Schulung haben. Die Inklusionsvereinbarung hält dazu fest, dass »… die berufliche Weiterbildung von schwerbehinderten Menschen besonders zu fördern (ist). Dazu sind schwerbehinderte Menschen bei inner- und außerbetrieblichen Fortbildungsmaßnahmen bevorzugt zu berücksichtigen und die Teilnahme an diesen Maßnahmen ist in zumutbarem Umfang zu erleichtern«. Darüber hinaus regelten die Parteien, dass bei Unterschreitung der Beschäftigungsquote schwerbehinderter Personen von 8% gemeinsam Maßnahmen erörtert werden, um die Beschäftigung Schwerbehinderter zu steigern und Ausgleichsabgaben entgegenzuwirken. Bei der Besetzung von Arbeitsplätzen werden Schwerbehinderte besonders berücksichtigt. Bei Einführung neuer Technologien wird die SBV bereits im Planungsstadium einbezogen, ebenso bei Umzügen oder bei der Umgestaltung von Arbeitsplätzen und dem Neubezug von Arbeitsräumen, vor allem in Bezug auf Barrierefreiheit der gesamten Arbeitsumgebung. Für Schwerbehinderte wird eine individuelle, auf das Leistungsbild bezogene Gefährdungsbeurteilung erstellt. Vorgesetzte werden zum Umgang mit Schwerbehinderung geschult. Aus Sicht der SBV ein wichtiger Punkt, um die Sensibilität und das Verständnis für die Bedürfnisse dieser Zielgruppe auch auf Leitungsebene zu verankern. Außerdem einigten sich die Parteien auf eine jährliche Evaluierung und – bei Bedarf – auch Weiterentwicklung.

Auf den Blickwinkel kommt es an

Damit liegt nun eine Vereinbarung vor, die auf die individuelle Situation beim MD Bayern konkret heruntergebrochen wurde und wie ein Nachschlagewerk Regelungen und Maßnahmen auf einen Blick bereitstellt. Gefragt nach einem Rat bzw. konkretem Tipp für Schwerbehindertenvertretungen, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigen, unterstreicht Matthias Günzel, dass es besonders wichtig sei, sich bei der Ausgestaltung jeweils in die konkrete örtliche Situation und in die Arbeitsbedingungen der Schwerbehinderten hineinzuversetzen und diese aus deren Blickwinkel zu betrachten. Außerdem sei es hilfreich, alle im Unternehmen, insbesondere auch die Führungsebenen, mitzunehmen, damit dieses wichtige Thema in möglichst vielen Köpfen ankomme und etwaige Unsicherheiten im Umgang damit frühzeitig ausgeräumt werden könnten. Für die Jury des Deutschen Personalräte- Preises ein beispielhaftes Vorgehen, das Schule machen sollte. Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende, zeichnete daher auf dem Schöneberger Forum in Berlin am 3.11.2021 das Gremium mit dem Sonderpreis in der Kategorie Schwerbehindertenvertretung aus.

Christof Herrmann,
Kommunikationsberater mit den Themen Arbeit, Recht und Wirtschaft, Aachen.
kommunikation@sc-herrmann.de

► Zum Beitrag "Toleranz und Respekt" in: Personalrat 1/2022, S. 32f.

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