Betriebsbedingte Kündigung

Rentennähe und Sozialauswahl

12. Dezember 2022
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Quelle: © Jeanette Dietl / Foto Dollar Club

Bei betriebsbedingten Kündigungen darf der Arbeitgeber Beschäftigte nicht wegen ihres Alters benachteiligen. Allerdings darf er in der Sozialauswahl die Zeit in Betracht ziehen, ab der ältere Beschäftigte eine abschlagsfreie Altersrente erhalten können (Rentennähe). Davon ausgenommen ist nur die Altersrente für schwerbehinderte Menschen - so das Bundesarbeitsgericht.

Darum geht es

Die 1957 geborene Klägerin war seit 1972 bei ihrer Arbeitgeberin beschäftigt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schloss der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah.

In dieser Liste war auch die Klägerin genannt. Mit Schreiben vom 27. März 2020 kündigte der beklagte Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis zum 30. Juni 2020. Die Klägerin hält die Kündigung für unwirksam. Der Insolvenzverwalter ist der gegenteiligen Ansicht. Die Klägerin sei in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig. Sie habe als einzige die Möglichkeit, ab 1. Dezember 2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück.

Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat vereinbarte der beklagte Insolvenzverwalter mit diesem Ende Juni 2020 wegen der nunmehr beabsichtigten Betriebsstilllegung zum 31. Mai 2021 einen zweiten Interessenausgleich mit Namensliste. Der beklagte Insolvenzverwalter kündigte der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin vorsorglich erneut am 29. Juni 2020 zum 30. September 2020. Die Klägerin erhob auch gegen diese Kündigung Kündigungsschutzklage.

Vor dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht hatte der Arbeitnehmer mit beiden Kündigungsschutzanträgen Erfolg.

Das sagt das Bundesarbeitsgericht

Die Revision des Insolvenzverwalters hatte vor dem Bundesarbeitsgericht nur teilweise Erfolg. Der Senat befand die erste Kündigung vom 27. März 2020 wie die Vorinstanzen im Ergebnis für unwirksam. Allerdings durften die Betriebsparteien die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium „Lebensalter“ berücksichtigen.

Sinn und Zweck der sozialen Auswahl ist es, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ist dabei ambivalent:

  • Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
  • Die Schutzbedürftigkeit fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters verfügen kann oder eine solche bereits bezieht. Diese Umstände können der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigen ihnen § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum zu.
  • Davon ausgenommen ist lediglich die Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) - so das BAG in seiner Pressemitteilung.
  • Die streitbefangene Kündigung vom 27. März 2020 war im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgte und deswegen grob fehlerhaft war.
  • Im Hinblick auf die vorsorgliche Kündigung vom 29. Juni 2020 hatte die Revision des beklagten Insolvenzverwalters demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung ist wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30. September 2020 aufgelöst.

Hinweis für die Praxis

Bei betriebsbedingten Kündigungen kann beim Lebensalter zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht oder wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann.

Warum das BAG die Altersrente für schwerbehinderte Menschen insoweit ausgenommen hat, steht nicht in der Pressemitteilung - dafür muss man die Urteilsbegründung abwarten, Es liegt allerdings nahe, dass dies mit dem Nachteil zusammenhängt, der schwerbehinderten Beschäftigten durch Inanspruchnahme der frühen Rente entsteht: Sie verlieren dadurch ein oder mehrere Beitragsjahre und wären insofern gegenüber allen anderen Beschäftgten benachteiligt.

Wichtig ist vorerst: Der Arbeitgeber darf schwerbehinderte Beschäftigte in der Sozialauswahl zwar als "rentennah" einstufen, wenn die Voraussetzungen vorliegen, aber nicht wegen der Rente für Schwerbehinderte - das wäre ein Fehler in der Sozialauswahl.

© bund-verlag.de (ck)

Quelle

BAG (08.12.2022)
Aktenzeichen 6 AZR 32/22
BAG, Pressemitteilung vom 8.12.2022
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