Wer Arbeit duldet muss zahlen

In Deutschland werden jährlich fast 1 Milliarde Überstunden von Arbeitnehmern geleistet, die weder bezahlt noch durch Freizeit ausgeglichen werden. Die vorliegende Entscheidung kritisiert bereits in ihrem Leitsatz diesen an sich unhaltbaren Zustand deutlich. Die »rigide Rechtsprechung« des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Bezahlung von Überstunden sei zweifelhaft.
In dem Fall selbst ging es um 535,25 Überstunden, die der Kläger in einem Fuhrparkunternehmen über rund acht Monate geleistet hatte. Der Kläger war als Leiter Technik/Fuhrpark dort tätig.
Mehrarbeit trotz Vereinbarung nicht erfasst
Laut Arbeitsvertrag war der Kläger auf Anordnung des Arbeitgebers zu Mehrarbeit verpflichtet. Zugleich gab es ein Arbeitszeitkonto, in dem die Mehrarbeit eingestellt werden sollte. Innerhalb von 12 Monaten sollte ein Ausgleich in Freizeit oder durch Zahlung des Mindestlohns für die Stunden erfolgen. Tatsächlich wurden die Überstunden dort aber nur in den ersten drei Wochen des Arbeitsverhältnisses erfasst.
Restriktive BAG-Rechtsprechung
Nach der derzeitigen BAG-Rechtsprechung zu Überstunden ist die Sachlage wie folgt: Zunächst muss der Arbeitnehmer darlegen, an welchem Tag er von wann bis wann gearbeitet hat. Danach muss der Arbeitgeber hierzu Stellung nehmen und im Einzelnen vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen hat und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen – gegebenenfalls nicht - nachgekommen ist.
Außerdem muss der Arbeitnehmer darlegen, inwiefern der Arbeitgeber die Leistung der Überstunden veranlasst hat. Dies wird dann angenommen, wenn er die Überstunden angeordnet, gebilligt oder geduldet hat oder sie zur Erledigung der geschuldeten Arbeit erforderlich waren.
Oftmals scheitern Prozesse wegen der Bezahlung von Überstunden daran, dass der Arbeitnehmer die nach der BAG-Rechtsprechung erforderliche Duldung durch den Arbeitgeber nicht darlegen kann. Laut BAG ist dies aber erforderlich, weil sich der Arbeitgeber Überstunden nicht „aufdrängen“ lassen muss.
Arbeitgeber ist Herr im Betrieb
Der Kläger machte mit seiner Klage die Vergütung von 529,25 Überstunden geltend und hatte Erfolg. Das LAG Berlin-Brandenburg kritisierte die BAG-Rechtsprechung zu aufgedrängten Überstunden. Der Arbeitgeber sei schließlich »Herr im eigenen Betrieb«. Der Ableistung von Mehrarbeit kann er einen Riegel vorschieben, indem er die Arbeitnehmer nach der regulären Arbeitszeit nach Hause schickt.
Lässt der Arbeitgeber Mehrarbeit nach der Betriebsorganisation hingegen zu, so signalisiert er, dass ihm die Leistung weiterer Stunden egal ist. Diese muss er sich dann auch zurechnen lassen. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass andere Führungskräfte gleichfalls Mehrarbeit ohne Bezahlung geleistet hatten. Die Hinnahme eines rechtswidrigen Zustands durch viele Arbeitnehmer hat keine Auswirkung auf die Rechtsposition eines einzelnen Arbeitnehmers – so das LAG deutlich.
Der Arbeitnehmer hatte für jeden einzelnen Tag Beginn und Ende der Arbeitszeit vorgetragen. Seiner Darlegungspflicht war er damit nachgekommen. Der Arbeitgeber hatte die Darlegung lediglich pauschal bestritten und nicht im Einzelnen die übertragenen Aufgaben dargelegt. Das war unzureichend.
Duldung durch Kenntnis
Sodann kam es auf die Duldung der Überstunden durch den Arbeitgeber an. Dieser hatte unter anderem argumentiert, dass der Kläger keine Vergütung erwarten durfte, weil schließlich alle Führungskräfte unentgeltlich Mehrarbeit leisteten. Daraus schloss das LAG, dass dem Arbeitgeber die Ableistung von Überstunden durch den Arbeitnehmer bekannt war. Weil er trotz Kenntnis hiergegen nicht vorgegangen war, habe er die Überstunden geduldet.
Das LAG konnte dem Arbeitnehmer nur eine Vergütung in Höhe des Mindestlohns zusprechen, weil er nicht mehr beantragt hatte. So war es im Arbeitsvertrag auch vereinbart. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob bei einem signifikant höheren Stundenlohn eine solche vertragliche Vereinbarung rechtmäßig ist, nach der Überstunden nur mit dem Mindestlohn vergütet werden.
Hohe Hürden bei der Durchsetzung der Überstundenvergütung
Die Durchsetzung von Mehrarbeitsvergütung ist in der Tat häufig schwierig. Arbeitsverträge sehen regelmäßig die Verpflichtung zur Erbringung von Mehrarbeit vor. Ob diese auch vergütet werden muss, ist hingegen vielfach nicht geregelt. Laut BAG ist dann immer im Einzelfall zu prüfen, ob eine Vergütung zu erwarten war.
Praxistipps
Voraussetzung für eine erfolgreiche Geltendmachung vor Gericht ist eine genaue Auflistung, an welchem Tag wie lange gearbeitet wurde sowie die Darlegung der Anordnung, Genehmigung oder Duldung durch den Arbeitgeber. Zumindest was die Duldung angeht, kann die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg eine gute Argumentationshilfe sein.
Der Betriebsrat hat bei der Anordnung von Überstunden ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG. Auch die Verteilung der Überstunden auf die einzelnen Wochentage unterliegt der Mitbestimmung. Eine Anordnung ohne Beteiligung des Betriebsrats ist unwirksam und muss vom Arbeitnehmer nicht befolgt werden.
Am sinnvollsten ist es, Überstundenregelungen und Vergütungspflichten des Arbeitgebers in einer Betriebsvereinbarung verbindlich festzulegen.
Matthias Beckmann, DGB Rechtsschutz GmbH
Quelle
Aktenzeichen 15 Sa 66/17
Diese Entscheidungsbesprechung ist Bestandteil des Newsletters AiB Rechtsprechung für den Betriebsrat 1/2018 vom 17.1.2018.