3.2 Berufskrankheitengeschehen 2019

Das Berufskrankheitenrecht in Deutschland ist vom Gesetzgeber so angelegt, dass nur ein kleiner Teil der beruflich verursachten Erkrankungen amtlich überhaupt als »Berufskrankheit« anerkannt wird. Die Details sind in der Berufskrankheiten-Verordnung geregelt, aus der wiederum eine Liste der Berufskrankheiten hervorgeht (BK-Liste). Diese Liste ist im Lauf der Jahre immer wieder erweitert worden und umfasst aktuell 80 mögliche Berufskrankheiten. Das bedeutet auch: Das Gros der arbeitsbedingten Erkrankungen kommt per Definition für die Anerkennung einer Berufskrankheit gar nicht in Frage.

Sollte diese Hürde allerdings im Fall einer bestimmten Erkrankungen genommen sein, folgt sogleich die nächste: Ein sehr großer Teil der Verdachtsmeldungen wird im üblichen Prüfungsverfahren durch die Berufsgenossenschaften nicht anerkannt und nur ein sehr kleiner Teil wird entschädigt. Hier stoßen Erkrankte auf eine restriktive Anerkennungspraxis.

Häufig wird die berufliche Verursachung der angezeigten Krankheit bestritten. Oder sie wird zwar eingeräumt, aber nicht in der für erforderlich gehaltenen Dosis. In nicht wenigen Fällen lässt sich die lange zurückliegende Gesundheitsgefährdung nicht mehr klar nachweisen. Und besonders oft kommt es vor, dass Betroffenen aus Angst vor Arbeitslosigkeit nicht bereit waren, den belastenden Arbeitsplatz aufzugeben, also dem »Unterlassungszwang« nachzugeben. Dann wird ihre Krankheit vielleicht als beruflich bedingt akzeptiert, es bleibt allerdings eine förmliche Anerkennung versagt.

Abb. 60 gibt einen Überblick über die Zahlen im Zeitverlauf. Für die vergangenen zehn Jahre ist – mit Schwankungen – die Zahl der jährlichen Verdachtsanzeigen allmählich angestiegen. Diese jährlichen Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit lagen 2007 und 2008 bei rund 64.000. 2009 stieg die Zahl auf 70.000, 2010 auf über 73.000, stieg dann weiter an und pendelt seit 2015 um 80.000.

Abb. 60: Berufskrankheiten 2011–2016

 

Quelle: SUGA 2013-2016

Kategorie

2011

2012

2013

2014

2015

2016

Verdachtsanzeigen

74.337

73.574

74.680

75.102

81.702

80.163

Verdacht bestätigt, aber besondere vers.-rechtl. Voraussetzungen nicht erfüllt

19.389

20.061

20.686

20.869

20.555

19.635

Anerkennungen

15.880

15.949

16.413

16.969

18.041

22.320

BK-Verdacht nicht bestätigt

39.060

37.564

37.581

37.263

43.111

41.208

Neue BK-Renten

5.534

5.053

4.926

5.277

5.180

5.458

Todesfälle durch eine BK

2.560

2.468

2.357

2.469

2.415

2.576

Mit der absoluten Zahl der Verdachtsmeldungen ist im Zeitverlauf auch die Zahl der Anerkennungen gestiegen. Ihr Prozentsatz an der Gesamtzahl bewegte sich aber jahrelang – mit Schwankungen – stets um einen Anteil von rund 22%. 2015 lag er bei 25%, 2016 bei 24,5%. Auch die Zahl der Ablehnungen ist gestiegen, jedoch nicht im gleichen Verhältnis wie die Zahl der Verdachtsmeldungen. Generell erfahren mehr als die Hälfte der Verdachtsanzeigen eine Ablehnung. 2011 waren es 52,5%, 2016 51,4%.

Überproportional angestiegen ist dagegen die Zahl der Verdachtsmeldungen, bei denen eine berufliche Verursachung anerkannt wurde, bei denen die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen aber nicht erfüllt waren. Gemeint ist damit die Vorschrift, dass mit der Verdachtsmeldung die versicherte und offenbar krank machende Tätigkeit auch aufgegeben werden muss, noch bevor über die Anzeige entschieden wurde. Dem können viele Beschäftigte aus existenziellen Gründen nicht nachkommen. Sie können dann auch nicht auf eine Anerkennung rechnen. Aus guten Gründen ist diese Praxis daher auch umstritten und wird von den Gewerkschaften abgelehnt.

Eine frappierende Kontinuität ist bei den neuen BK-Renten zu beobachten. Hier gab es keinen Anstieg. Deren Zahl schwankt im Lauf der Jahre stets um 5.000. Das waren z. B. 2011 7,4% aller Verdachtsanzeigen, 2016 6,8%. Erstaunlich konstant ist auch die Zahl der Todesfälle durch eine Berufskrankheit.

Es muss weiter davon ausgegangen werden, dass eine große Zahl berufsbedingter Erkrankungen als solche gar nicht erkannt und deswegen auch nicht gemeldet wird. Und nach wie vor ist anzunehmen, dass die Zahl der arbeitsbedingten Erkrankungen über das enge BK-Spektrum hinaus viel größer ist. Wir haben es hier also mit der Spitze eines Eisbergs zu tun.

Der Blick auf die besonders häufig angezeigten Krankheiten und deren Anerkennungen zeigt über die Jahre eine bemerkenswerte Kontinuität (Abb. 61). Wie in den Jahren zuvor machen die Hauterkrankungen (28,6%) den Löwenanteil der Verdachtsfälle aus, gefolgt von der Lärmschwerhörigkeit (16,0%) und den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (6,1%). Hier werden die anhaltenden Mängel der Prävention offenkundig.

Bei den Anerkennungen zeigt sich ein ganz anderes Bild. Die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit ist die Lärmschwerhörigkeit mit rund 7.000 Fällen. Das entspricht einer Anerkennungsquote von 55% dieser Verdachtsanzeigen. Völlig anders sieht es aus beim Spitzenreiter der Verdachtsmeldungen, den Hauterkrankungen. Hier liegt die Anerkennungsquote bei ganzen 2,3%. Bei den Erkrankungen der Lendenwirbelsäule ist die Quote gestiegen und liegt jetzt bei 9,2%.

Große Unterschiede bestehen bei einzelnen Krankheitsarten auch zwischen Anerkennungen und neuen Renten (Abb. 62). Bei einigen Krankheiten, wie z. B. den Asbest-Berufskrankheiten 4104 (Lungen- und Kehlkopfkrebs) oder 4105 (Mesotheliom) ist die Zahl der Entschädigungen/Renten nahezu gleich mit der Zahl der Anerkennungen. Bei anderen klafft hier eine große Divergenz. Am auffälligsten ist das bei der Lärmschwerhörigkeit (BK 2301). Hier kommen auf 7.032 Anerkennungen nur 239 Renten. Ein anderes Bild ergibt sich bei der noch neuen amtlichen Berufskrankheit Hautkrebs (BK 5103). Gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der Anerkennungen bei dieser Berufskrankheit stark gestiegen (von 2.000 auf 5.000). Auf diese relativ hohe Zahl der Anerkennungen kommen aber nur gut 300 Rentenbewilligungen (Vorjahr: 200).

Die Kluft zwischen dem sich weiter ändernden Belastungsspektrum in der Arbeitswelt und der amtlichen BK-Liste nach wie vor groß. Allein die Altlasten – nämlich der drei großen Asbest-Berufskrankheiten (4103 Asbestose, 4105 Mesotheliom und 4104 Lungen-/Kehlkopfkrebs) – machen 2016 18,6% aller BK-Anerkennungen und knapp 43% aller neuen BK-Renten aus.

Erneuerungsbedarf gibt es vor allem bei vielen Krebs erzeugenden Chemikalien, bei weit verbreiteten mechanischen Belastungen, bei neuen Belastungen durch Zwangshaltungen und bewegungsarmen Tätigkeiten vor allem im Dienstleistungsbereich, so etwa durch ständiges Sitzen im Beruf. Das gilt erst recht für psychische Belastungen am Arbeitsplatz, die vielfältige Erkrankungen auslösen können.

2015 starben (nach den aktuellen Daten von SUGA 2016) 2.576 Menschen an den Folgen einer Berufskrankheit – folgt man den amtlichen Zahlen. Da die Kluft zwischen Verdachtsmeldungen und Anerkennungen groß ist, muss von einer weiteren Dunkelziffer ausgegangen werden. Fast zwei Drittel dieser Todesfälle – 64,5% sind den drei großen Asbest-Berufskrankheiten zuzurechnen. Rechnet man noch die Silikose (BK 4101) mit 11,1% der BK-Todesfälle hinzu, so entfallen drei Viertel aller BK-Todesfälle der amtlichen Statistik auf Erkrankungen, die auf sehr lange zurückliegende Belastungen durch Krebs erzeugende Stäube zurückzuführen sind (Abb. 63).