4.3 Entwicklungsstand des betrieblichen Arbeitsschutzes

Seit nunmehr zehn Jahren bemühen sich der Bund, die Arbeitsschutzverwaltungen der Länder und die Unfallversicherungsträger, im Rahmen der »Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie« (GDA) ihre Vorgehensweisen weiterzuentwickeln und enger abzustimmen und dadurch die Sicherheit und Gesundheit in den Betrieben voranzubringen. Dabei kam zweifellos einiges Bemerkenswerte zustande, etwa gemeinsame Überwachungsleitlinien, eine modernisierte Vorschriftenstruktur oder koordinierte bundesweite Arbeitsprogramme zu psychischen Belastungen und anderen zentralen Arbeitsschutzthemen.

Wie aber sieht es auf der betrieblichen Ebene aus? Hat sich die Arbeitsschutzpraxis hier in der angestrebten Weise entwickelt? Empirische Informationen dazu liefern repräsentative Betriebs- und Beschäftigtenbefragungen, die 2011 und 2015 als Teil der GDA-Evaluation durchgeführt wurden. Dazu wurden 6.500 Betriebe befragt – Produktionsbetriebe, Betriebe aus dem privaten Dienstleistungsbereich und öffentliche Verwaltungen und Dienstleistungsbetriebe. Hinweise geben außerdem die regelmäßigen Betriebsrätebefragungen des WSI sowie einige Erhebungen im Rahmen des DGB-Index Gute Arbeit.

15 Jahre lang, von 1996 bis zur ersten GDA-Evaluation 2011 gab es keine soliden amtlichen Daten zum Umsetzungsstand der Gefährdungsbeurteilung. Im Datenanhang des Jahrbuches 2010 haben wir hilfsweise die Beschäftigtenbefragung des DGB-Index 2008 ausgewertet (Seite 461ff.). Sie ergab unter anderem, dass 70% der Beschäftigten meinten, in ihrem Betrieb habe es bisher keine Gefährdungsbeurteilung gegeben bzw. sie hätten zumindest nichts davon bemerkt (41% sagten »keine Gefährdungsbeurteilung«, 29% sagten »weiß ich nicht«). 13% berichteten, es habe »einmal« eine Gefährdungsbeurteilung gegeben, 17% sprachen von »mehrmals«. In größeren Betrieben mit über 200 Beschäftigten sahen die Ergebnisse zumindest geringfügig besser aus. Auf die Frage, warum es mit der Gefährdungsbeurteilung nicht vorangehe, antworteten in der Betriebsrätebefragung des WSI und des Projekts PARGEMA (2008/09) 62%, es fehle am nötigen Know how. 59% führten Widerstände der Arbeitgeber an, 48% berichteten von fehlenden betrieblichen Ressourcen.

Im Jahrbuch 2011 konnten wir auf Ergebnisse der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2005/06 verweisen, die zu ähnlichen Ergebnissen kam wir der DGB-Index: Demnach antworteten 72% mit »Nein« auf die Frage, ob es in ihrem Betrieb eine Gefährdungsbeurteilung gegeben habe, 28% bejahten die Frage. Als besonders schwierig zeigte sich damals schon die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Auf die Frage nach dem »Warum« antworteten 89% der Betriebsräte, dieses Thema sei zu schwierig zu handhaben. 69% meinten, kaum einer wisse, wie man das machen solle.

Im Datenanhang des Jahrbuches 2013 haben wir die einschlägigen Daten der GDA-Dachevaluation 2011 ausgewertet (Seite 352ff.). Sie zeigten eine gewisse – jedoch immer noch unzureichende – Verbesserung der Situation an.

Wie die beiden inzwischen durchgeführten GDA-Befragungen (2011 und 2015; siehe www.gda-portal.de/de/Ueber-die-GDA/Evaluation/Evaluation) zeigen, wird diese seit 1996 bestehende gesetzliche Verpflichtung bislang nur in etwas mehr als der Hälfte der Betriebe erfüllt, wobei sich im jüngeren Zeitverlauf auch keine substanzielle Verbesserung eingestellt hat. Umsetzungslücken gibt es vor allem im kleinbetrieblichen Bereich (< 50 Beschäftigte), während in Mittel- und Großbetrieben die Implementation inzwischen als weit fortgeschritten angesehen werden kann – zumindest quantitativ betrachtet (Abb. 72).

Zunächst einmal fällt auf, dass der im Bericht »Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit« (SuGA) für den Zeitraum 2013–2016 ausgewiesene Zuwachs an Aufsichtsbeamten rechnerisch ausschließlich der Entwicklung in zwei Ländern geschuldet ist, nämlich Niedersachsen und Hessen. In ersterem war die Zahl der Aufsichtsbeamten von einem Jahr aufs nächste (2013–14) um sage und schreibe 282 – also um fast zwei Drittel – angestiegen. Trotz des nachfolgenden Rückgangs lag das Niveau zuletzt immer noch um rund 42% über dem des Jahres 2013. Dass es sich hierbei eigentlich nur um einen erfassungsbedingten Scheineffekt und nicht um eine reale Steigerung handeln kann, zeigt ein Vergleich der SuGA-Zahlen mit den Angaben in den Jahresberichten der niedersächsischen Arbeitsschutzverwaltung: Hier ist für 2016 von lediglich 443 ausgebildeten Aufsichtsbeamten die Rede; die im SuGA genannte sehr viel höhere Zahl (638) ist durch nichts anderes zu erklären als das Hinzuzählen weiterer Beschäftigtengruppen der Aufsichtsbehörde (insbesondere des so genannten »sonstigen Fachpersonals«), die keine hoheitlichen Befugnisse besitzen und deshalb auch nicht als Aufsichtsbeamte im Sinne der Statistik zu betrachten sind. In Hessen liegt der Fall offenbar ganz ähnlich, auch hier machte die Zahl der Aufsichtsbeamten von 2013 auf 2014 einen völlig unplausiblen Sprung um 62% nach oben.

Ein realistischeres Bild von den Aufsichtskapazitäten im Arbeitsschutz erhält man, wenn man zumindest für Niedersachsen die stark überhöht erscheinenden SuGA-Zahlen durch die im Jahresbericht der Landesbehörde angegebenen Zahlen ersetzt. (Für Hessen ist eine solche Korrektur leider nicht möglich.) Es ergeben sich dann für das Jahr 2016 deutschlandweit nur mehr 2.990 (statt 3.185) Aufsichtsbeamte, der 8,5%ige Anstieg seit 2013 schrumpft auf ein mageres Plus von 1,9%, und der Rückgang im Zeitraum 2006–2016 fällt mit -15,1% (gegenüber -9,5%) nun sehr viel deutlicher aus.

Noch problematischer erscheint die Personalsituation in der staatlichen Aufsicht, wenn man berücksichtigt, wie unterschiedlich diese sich in den 16 Bundesländern entwickelt hat. Während einige Länder die Jahre seit 2006 (bis 2016) trotz gewisser Schwankungen relativ unbeschadet überstanden oder in dieser Zeit sogar Zuwächse erlebt haben (Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein), sind in anderen Ländern die Zahlen förmlich abgestürzt. Dies gilt insbesondere für den Osten Deutschlands: nirgends sind seit 2006 prozentual so viele Aufsichtsbeamte verloren gegangen wie hier, Rückgänge von 32% (Mecklenburg-Vorpommern), 36% (Sachsen), 43% (Thüringen), 46% (Sachsen-Anhalt) und 52% (Brandenburg) sprechen eine deutliche Sprache.

Selbst von der seit 2014 erfolgten relativen Stabilisierung der Lage war in den ostdeutschen Ländern kaum etwas zu spüren. So sank in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt die Zahl der Aufsichtsbeamten auch in diesem kurzen Zeitraum jeweils noch um zweistellige Prozentwerte. Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen kamen zuletzt zwar etwas glimpflicher davon, mehr Aufsichtsbeamte gab es allerdings auch hier nicht.

Bei der Beurteilung der staatlichen Aufsichtskapazitäten ist schließlich zu berücksichtigen, dass diese keineswegs nur für die Überwachung des Arbeitsschutzes zur Verfügung stehen, sondern auch für andere Aufgabenbereiche wie etwa die Produktsicherheit, den Gefahrguttransport oder den Immissionsschutz eingesetzt werden. In welchem Umfang solche Aufgaben die Personalressourcen der Aufsicht binden, lässt sich ebenfalls dem SuGA entnehmen.

Seit 2014 wird dort ausgewiesen, wie viele Aufsichtsbeamte mit der Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften im engeren Sinne befasst sind und wie viele sich den nicht direkt arbeitsschutzbezogenen Rechtsgebieten widmen. Leider sind diese statistischen Informationen lückenhaft, da entsprechend differenzierte Zahlen aus zwei relativ personalstarken Arbeitsschutzverwaltungen (Baden-Württemberg und Bayern) bislang nicht vorgelegt werden. Geht man hilfsweise davon aus, dass hier die gleichen Relationen gelten wie im Durchschnitt der restlichen Länder, lässt sich die Zahl der Aufsichtsbeamten mit Arbeitsschutzaufgaben auf bundesweit etwas mehr als 1.800 schätzen. Demnach entfallen also fast zwei Fünftel der vorhandenen Aufsichtskapazitäten auf Aktivitäten in Rechtsgebieten außerhalb des Arbeitsschutzes. In einzelnen Ländern kann dieser Anteil durchaus noch höher liegen, so in Rheinland-Pfalz (58%), Niedersachsen (48%) oder Bremen (47%).

In Anbetracht des geschilderten Personallabbaus in den Arbeitsschutzbehörden verwundert es nicht, dass deren Kontrolltätigkeit vor Ort langfristig erheblich nachgelassen hat. Waren im Jahr 2006 insgesamt fast 230.000 Besichtigungen in rund 150.000 Betrieben durchgeführt worden, so verzeichnete die Statistik zehn Jahre später nur noch knapp 120.000 Besichtigungen in etwas weniger als 83.000 Betrieben – ein Minus von 48 bzw. 45% (Abb. 70). Von dieser Tendenz besonders stark betroffen sind kleine Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten.

Insgesamt lautet der Befund, dass dort, wo Gefährdungsbeurteilungen gemacht werden, die »klassischen« Felder des Arbeitsschutzes im Vordergrund stehen. Nur in einer Minderheit der Fälle – und von 2011 bis 2015 sogar mit rückläufiger Tendenz – werden z. B. die Arbeitszeitgestaltung und die sozialen Beziehungen im Betrieb untersucht, wie eine kürzlich veröffentlichte BAuA-Analyse der GDA-Evaluationen gezeigt hat (S. Sommer/R. Kerschek/U. Lenhardt: Gefährdungsbeurteilung in der betrieblichen Praxis: Ergebnisse der GDA-Betriebsbefragungen 2011 und 2015, BAuA, Dortmund 2018) (Abb. 74). In der genaueren Analyse zeigte sich, dass in Produktionsbetrieben sehr viel häufiger Gefährdungen durch Maschinen, schwere körperliche Belastungen, Arbeitsumgebungsfaktoren durch Gefahr- und Biostoffe untersucht wurden, während in Dienstleistungsbetrieben eher psychische Belastungen und Belastungen durch bewegungsarme Tätigkeiten im Mittelpunkt standen.

Abb. 74: In Gefährdungsbeurteilungen überprüfte Themen
(in %, Mehrfachnennungen)

 

Quelle: BAuA 2018

 

2011

2015

Arbeitsplatzgestaltung

88,7

88,4

Arbeitsumgebung

89,1

90,9

Arbeitsmittel

94,7

91,4

Arbeitszeitgestaltung

48,4

47,4

Umgang mit schwierigen Personengruppen

38,6

 

Arbeitsorganisation

55,5

 

Arbeitsabläufe und Arbeitsverfahren

 

75,5

Soziale Beziehungen

44,4

35,2

Die genannte BAuA-Studie hat aus den GDA-Daten Hinweise herausgezogen, die zeigen, aus welchen Gründen Betriebe keine Gefährdungsbeurteilung gemacht haben (Abb. 75). Zwar gab etwa ein Viertel der Betriebe an, die einschlägigen gesetzlichen Vorschriften nicht zu kennen, und etwa 15% führten auch einen Mangel an Hilfestellungen an. Die allermeisten der Befragten waren jedoch der frappierenden Auffassung, eine Gefährdungsbeurteilung erübrige sich, weil es in ihrem Betrieb keine nennenswerten Gefährdungen gäbe. Mehr als 80% der Betriebe ohne Gefährdungsbeurteilung behaupteten das. Diese Position wurde in Produktionsbetrieben noch öfter vertreten als im Dienstleistungsbereich. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das Gros der Betriebe ohne Gefährdungsbeurteilung nach den GDA-Daten Kleinbetriebe unter 50 Beschäftigten sind. Zudem ist zu bedenken, dass ein großer Teil der Befragten Inhaber, Geschäftsführer oder leitende Angestellte der Betriebe waren.

Abb. 75: Gründe für die Nichtdurchführung von
Gefährdungsbeurteilungen (Mehrfachnennungen, in %)

 

Quelle: BAuA 2018

   
 

2011

2015

Keine nennenswerten Gefährdungen

84,8

81,0

Beschäftigte erkennen Defizite selbst und melden oder beseitigen sie

83,0

83,2

Hilfestellungen fehlen

14,6

13,8

Gesetzliche Anforderungen unklar

15,2

14,7

Nutzen zu gering

47,0

40,4

Vorschriften nicht bekannt

26,6

27,4

Auch bei der präventionsfachlichen Betreuung deuten die GDA-Befragungsresultate auf eine den Erfordernissen nicht entsprechende (und seit 2011 sogar leicht verschlechterte) Situation hin. Die vorgeschriebene Betreuung durch eine Sicherheitsfachkraft ist hiernach in weniger als der Hälfte (48%), die Inanspruchnahme eines Betriebsarztes gar nur in einem guten Drittel (35%) der Betriebe gewährleistet, mit jeweils besonders gravierenden Defiziten im Kleinbetriebssektor. Zumindest im Falle der Betriebsärzte ist allerdings zu berücksichtigen, dass laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin das verfügbare Angebot den Betreuungsbedarf auch überhaupt nicht zu decken vermag.

Das so genannte alternative Betreuungsmodell (»Unternehmermodell«), bei dem Kleinbetriebsinhaber nach Absolvierung spezieller Qualifizierungsmaßnahmen den Arbeitsschutz im Wesentlichen selbst durchführen und über den erforderlichen präventionsfachlichen Beratungsumfang auch weitgehend selbst entscheiden, wird nach wie vor nur von einer recht kleinen Minderheit (15%; 2011: 18%) der dafür prinzipiell in Frage kommenden Betriebe (bis 50 Beschäftigte) praktiziert.

Für die gewissenhafte Durchführung des Arbeitsschutzes spielen die betrieblichen Führungskräfte eine nicht weniger wichtige Rolle als die professionellen Arbeitsschutzspezialisten, deshalb sollten sie auch zumindest über die grundlegenden Anforderungen auf diesem Gebiet im Bilde sein. Inwieweit dies tatsächlich der Fall ist, lässt sich anhand der GDA-Befragungen nicht exakt beantworten. Was jedoch gesagt werden kann: Nur in einer deutlichen Minderheit der Betriebe (39%, ein seit 2011 nahezu unveränderter Wert) werden Führungskräfte speziell zu Fragen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes geschult. Demgegenüber wird die gesetzliche Pflicht, die Beschäftigten zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz zu unterweisen, größtenteils (von 80% aller befragten Betriebe) erfüllt. Nach den Ergebnissen der GDA-Beschäftigtenbefragung stehen bei den Unterweisungen Fragen der Arbeitssicherheit im Vordergrund, weniger oft thematisiert werden Vorkehrungen gegen Stress und langfristigen Gesundheitsverschleiß (z. B. Körperhaltungen bei der Arbeit). Immerhin scheinen die letztgenannten Themenbereiche inzwischen mehr Raum in den Unterweisungen einzunehmen als noch 2011.

Wie gut Betriebe im Arbeitsschutz aufgestellt sind, hängt von zahlreichen Faktoren ab, darunter auch von der Existenz von Mitbestimmungsstrukturen und der Aufsicht durch Arbeitsschutzbehörden und Unfallversicherungsträger (siehe dazu Abschnitt 4.3). Beispielhaft zeigen lässt sich dies an der Verbreitung von Gefährdungsbeurteilungen, die auch psychische Belastungen einbeziehen: Der Anteil der Betriebe mit einer solchen Gefährdungsbeurteilung ist beim Vorhandensein eines Betriebs- oder Personalrats mehr als doppelt so hoch wie im Falle einer nichtvorhandenen Interessenvertretung, und in Betrieben, die im Zeitraum 2013 bis 2015 von der Aufsicht besucht wurden, liegt der Wert um rund 75% über dem der nicht aufgesuchten Betriebe (Abb. 76).

Bedenklich ist allerdings, dass ausgerechnet die den betrieblichen Arbeitsschutz vielfältig begünstigenden Faktoren stagnieren oder auch tendenziell auf dem Rückzug sind. Das betrifft sowohl die Präsenz von Betriebsräten in den Betrieben (siehe Abschnitt 1.1) als auch die Aufsicht durch die Arbeitsschutzbehörden. Die Zahl der von staatlichen Aufsichtsbehörden und Unfallversicherungsträgern besichtigten Betriebe/Unternehmen ist allein zwischen 2010 und 2015 um 32% bzw. 22% gesunken. Die Daten aus der GDA-Evaluation sprechen alles in allem nicht dafür, dass es im Arbeitsschutz dynamisch vorangeht.