3.2 Berufskrankheitengeschehen 2017

Im Jahr 2015 wurden der Berufskrankheitenliste (BK-Liste) vier neue Berufskrankheiten hinzugefügt, die mit Wirkung vom 1. Januar 2016 an theoretisch anerkannt werden können, wenn Menschen in ihrem Beruf krank und arbeitsunfähig geworden sind. Die Liste umfasst jetzt 77 Krankheitsarten. Und ein Erfolg ist es in gewisser Weise auch, wenn man bedenkt, wie lange es z. B. bei der neuen Berufskrankheit Karpaltunnelsyndrom gedauert hat, bis sie amtlich als Berufskrankheit galt – nämlich mehr als zwei Jahrzehnte, nachdem ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse vorlagen. Neu in die BK-Liste aufgenommen wurden nun:

  • Weißer Hautkrebs und dessen Vorstufen (BK-Nr. 5103)
  • Karpaltunnel-Syndrom (BK-Nr. 2113)
  • Hypothenar-Hammer-Syndrom und Thenar-Hammer-Snydrom (BK-Nr. 2114)
  • Kehlkopfkrebs durch Schwefelsäuredämpfe (BK-Nr. 1319)

Die gravierenden Schwächen und Defizite des Berufskrankheitensystems sind dadurch aber nicht behoben. Sie bestehen weiter. Das Berufskrankheitenrecht in Deutschland ist vom Gesetzgeber so angelegt, dass nur ein kleiner Teil der beruflich verursachten Erkrankungen als »Berufskrankheit« anerkannt wird. Die restriktive Anerkennungspraxis der Berufsgenossenschaften verstärkt diesen Effekt noch. Häufig wird die berufliche Verursachung der angezeigten Krankheit bestritten. Oder sie wird zwar eingeräumt, aber nicht in der für erforderlich gehaltenen Dosis. In nicht wenigen Fällen lässt sich die lange zurückliegende Gesundheitsgefährdung nicht mehr klar nachweisen. Und besonders oft kommt es vor, dass Betroffene aus Angst vor Arbeitslosigkeit nicht bereit waren, den belastenden Arbeitsplatz aufzugeben, also dem »Unterlassungszwang« nachzugeben.

Dass es sich hier nicht um Einzelfälle handelt, belegen die amtlichen Zahlen (für das Jahr 2014). In diesem Jahr wurden rund 75 000 BK-Verdachtsfälle gemeldet (alle Zahlen nach SUGA 2014). Gegenüber dem Vorjahr war das ein leichter Anstieg um rund 400 Fälle. Trotzdem muss davon ausgegangen werden, dass eine große Zahl berufsbedingter Erkrankungen als solche gar nicht erkannt und deswegen auch nicht gemeldet wird. Und natürlich muss davon ausgegangen werden, dass die Zahl der arbeitsbedingten Erkrankungen über das enge BK-Spektrum hinaus viel größer ist. Wir haben es hier also mit der Spitze eines Eisbergs zu tun.

Knapp 17 000 Berufskrankheiten wurden anerkannt, also etwa ein Fünftel der Verdachtsanzeigen. Und nur gut 5 000 erhielten eine Entschädigung. Und fast die Hälfte der angezeigten Verdachtsfälle wurde komplett abschlägig beschieden (Abb. 57).

Dass das BK-Recht – politisch so gewollt – zu restriktiv angelegt ist und Erkrankte benachteiligt, wird von den Gewerkschaften seit Längerem heftig kritisiert (»Gute Arbeit« Heft 5/2016). Inzwischen stehen diese mit ihrer Kritik längst auch nicht mehr allein. Eine Reformdebatte ist in Gang gekommen. So forderte z. B. die 91. Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder im November 2014 die Bundesregierung zu einer umfassenden Reform auf. In einem Interview mit der Fachzeitschrift »Gute Arbeit« (Heft 7-8 2016, Seite 29-30) erklärte der nordrhein-westfälische Arbeits- und Sozialminister Rainer Schmeltzer, die Kritik am BK-Recht sei begründet. Es werde zu schnell und auch zu uneinheitlich abgelehnt. Die Beweisführung müsse für die Betroffenen erleichtert werden, es brauche mehr Einzelfallgerechtigkeit. Der Modus der Rentengewährung sei zu verbessern. Der Minister kritisierte auch den Unterlassungszwang und forderte, statt eines allzu raschen Rückzugs auf diese Regelung die Prävention deutlich zu verbessern. Auch bei der Forschung und bei der Arbeit des ärztlichen Sachverständigenbeirats seien Verbesserungen dringend geboten.

Ganz besonders der Unterlassungszwang erzeugt im BK-Recht und in der Praxis der Berufsgenossenschaften erhebliche Probleme zum Nachteil der Betroffenen. Er ist in der BK-Verordnung formuliert (Kasten). Im Kern geht es darum, dass Beschäftigte, die zu bestimmten Berufskrankheiten eine Verdachtsanzeige stellen, zunächst von der Berufsgenossenschaft aufgefordert werden, die belastende Tätigkeit aufzugeben. Der Theorie nach dürfte das nur verlangt werden, wenn zuvor alle Mittel der Prävention nachweislich ausgeschöpft sind. Tatsächlich läuft es zumeist umgekehrt: Die Betroffenen sollen aus dem belastenden Job aussteigen, dieser selbst bleibt aber – mitsamt seinen krank machenden Eigenschaften – weiter bestehen.

Unterlassungszwang
§ 3 Berufskrankheiten-Verordnung
»(1) Besteht für Versicherte die Gefahr, daß eine Berufskrankheit entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert, haben die Unfallversicherungsträger dieser Gefahr mit allen geeigneten Mitteln entgegenzuwirken. Ist die Gefahr gleichwohl nicht zu beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, daß die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen.«

Zwar betrifft der Unterlassungszwang nur neun amtliche Berufskrankheiten, darunter die Hauterkrankungen und die vier Erkrankungen der Wirbelsäule. Von allen Ablehnungsgründen ist aber der Hinweis, die Betroffenen hätten die krank machende Arbeit beibehalten, der häufigste. Es sind immerhin fast 21 000 Verdachtsanzeigen, die nicht als Berufskrankheit anerkannt oder entschädigt wurden, weil die »versicherungsrechtlichen Voraussetzungen« nicht erfüllt gewesen seien (siehe Abb. 57). Inzwischen wird diese jahrelang geübte Praxis weithin kritisch gesehen – weil sie in vielen Fällen medizinisch nicht wirklich begründet ist.

Professor Wolfgang Spellbrink, Richter am Bundessozialgericht, wies in der Zeitschrift »Soziales Recht« (1/2015) darauf hin, dass es doch vielmehr auf die Wirksamkeit der präventiven Schutzmaßnahmen ankomme. Wenn die Unfallversicherung hier aktiv werde, könne dies den Erkrankten ja ein Weiterarbeiten ermöglichen, ohne dass das die Anerkennung und Entschädigung ihrer Berufskrankheit ausschließen müsse.

Wie in den Jahren zuvor machen die Hauterkrankungen (32,5%) den Löwenanteil der Verdachtsfälle aus, gefolgt von der Lärmschwerhörigkeit (16,2%) und den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (7,2%). Hier werden die Mängel der Prävention offenkundig.

Bei den Anerkennungen zeigt sich ein ganz anderes Bild. Die am häufigsten anerkannte Berufskrankheit ist die Lärmschwerhörigkeit mit rund 6 600 Fällen. Das entspricht einer Anerkennungsquote von 54% dieser Verdachtsanzeigen. Völlig anders sieht es aus beim Spitzenreiter der Verdachtsmeldungen, den Hauterkrankungen. Hier liegt die Anerkennungsquote bei ganzen 2,3%. Bei den Erkrankungen der Lendenwirbelsäule beträgt sie sogar nur 0,7%. Hier wird die Ablehnung oft damit begründet, es handele sich um eine Art »Volkskrankheit«, um normalen, altersbedingten Verschleiß; die berufliche Verursachung wird in Abrede gestellt.

 

Große Unterschiede bestehen bei einzelnen Krankheitsarten auch zwischen Anerkennungen und neuen Renten. Bei einigen Krankheiten, wie z. B. den Asbest-Berufskrankheiten 4104 (Lungen- und Kehlkopfkrebs) oder 4105 (Mesotheliom) ist die Zahl der Entschädigungen/Renten weitgehend gleich mit der Zahl der Anerkennungen. Bei anderen klafft hier eine große Divergenz. Am auffälligsten ist das bei der Lärmschwerhörigkeit (BK 2301). Hier kommen auf 6 649 Anerkennungen nur 316 Renten (Abb. 59).

Auch nach der Erweiterung der BK-Liste hinkt das System der Berufskrankheiten hinter dem sich rasch verändernden Belastungsspektrum und der Beschäftigungsstruktur der heutigen Arbeitswelt hinterher. Berufskrankheiten im gesetzlichen Sinne (Sozialgesetzbuch VII) sind beschränkt auf einige wenige Erkrankungen, die hauptsächlich im gewerblichen Bereich durch chemische und physikalische Belastungen entstehen. Zudem ist das Berufskrankheitensystem zugeschnitten auf das Normalarbeitsverhältnis und den Achtstundentag: Leiharbeiter, Werkvertragsbeschäftigte, Solo-Selbständige und Menschen mit überlangen Arbeitszeiten sind noch stärker benachteiligt als regulär Beschäftigte.

Die Kluft zwischen dem sich weiter ändernden Belastungsspektrum in der Arbeitswelt und der amtlichen BK-Liste ist groß und ist – trotz der Erweiterungen – in den letzten Jahren noch größer geworden. Allein die Entschädigung von Altlasten – nämlich der drei großen Asbest-Berufskrankheiten (4103 Asbestose, 4104 Mesotheliom und 4104 Lungen-/Kehlkopfkrebs) – macht 22,6% aller BK-Anerkennungen aus.

Erneuerungsbedarf gibt es vor allem bei vielen Krebs erzeugenden Chemikalien, bei weit verbreiteten mechanischen Belastungen, bei neuen Belastungen durch Zwangshaltungen und bewegungsarmen Tätigkeiten vor allem im Dienstleistungsbereich, so etwa durch langes Sitzen im Beruf. Das gilt erst recht für psychische Belastungen am Arbeitsplatz, die vielfältige Erkrankungen auslösen können.

2014 starben 2 469 Menschen an den Folgen einer Berufskrankheit – folgt man den amtlichen Daten. Da die Kluft zwischen Verdachtsmeldungen und Anerkennungen groß ist, muss von einer weiteren Dunkelziffer ausgegangen werden. Fast zwei Drittel dieser Todesfälle – 63,4% – sind den drei großen Asbest-Berufskrankheiten zuzurechnen. Rechnet man noch die Silikose (BK 4101) mit 13,1% der BK-Todesfälle hinzu, so entfallen drei Viertel aller BK-Todesfälle der amtlichen Statistik auf Erkrankungen, die auf sehr lange zurückliegende Belastungen durch Krebs erzeugende Stäube zurückzuführen sind (Abb. 60).

Die vier Asbest-Berufskrankheiten nehmen im weiten Feld der Berufskrankheiten einen besonderen Stellenwert ein. Das sind Asbestose (4103), Lungen- oder Kehlkopfkrebs durch Asbest (4104), Mesotheliom (4105) und Lungenkrebs durch Zusammenwirken von Asbeststaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (4114).

Sie machen 3 872 Fälle von 16 969 (2014) der anerkannten Berufskrankheiten aus. Das ist keine Momentaufnahme: In diesem Ausmaß ist das etwa seit 20 Jahren der Fall. Im Einzelnen wurden 2014 1 967 Asbestosen registriert sowie 834 Lungen- oder Kehlkopfkrebserkrankungen durch Asbest und 1048 Fälle von Mesotheliom – sowie 23 Fälle von Lungenkrebs durch Asbest und PAK. Gegenüber 2013 ist das eine weitere Steigerung! Nach den 6 649 Anerkennungen wegen Lärmschwerhörigkeit nehmen die anerkannten Asbest-Erkrankungen den zweiten Platz ein!

Von insgesamt 9 325 (2013: 8 981) gestellten Verdachtsanzeigen wegen einer der drei genannten Asbest-Erkrankungen wurden demnach 41% anerkannt. In Anbetracht der Hürden, die vor einer solchen Anerkennung errichtet wurden, ist das eine relativ hohe Quote. Asbestschäden sind in der Regel sehr spezifisch, d. h. auch: durch eine präzise Diagnostik relativ gut von anderen Erkrankungen bzw. anderen Verursachungen zu unterscheiden. Trotzdem erleben auch Asbest-Erkrankte, dass der Weg zur Anerkennung ihres Leidens als Berufskrankheit und erst Recht zu einer Entschädigung – ähnlich wie bei anderen Berufskrankheiten – einem Hürdenlauf gleicht.

2014 starben 153 Menschen an Asbestose (2013: 159), 595 an Asbest-Lungen- oder Kehlkopfkrebs (2013: 556) und 817 an Mesotheliom (2013: 730). Das sind zusammen 1 565 anerkannte Asbest-Todesfälle in Deutschland (2013: 1 445) – in einem Jahr. Die Zahlen sind in den vergangen 30 Jahren stetig gestiegen. Etwa 1980 wurden »erst« 74 Tote in Folge einer asbestverursachten (anerkannten) Berufskrankheit verzeichnet, 1995 waren es bereits 1 150. Etwa seit dem Jahr 2000 bewegen sich die Zahlen konstant um 1 400 bis 1 500, 2014 waren es erstmals mehr als 1 500 (Abb. 61). 2014 wurden insgesamt 2 469 Todesfälle wegen einer anerkannten Berufskrankheit registriert (2013: 2 343). Die durch Asbest verursachten BK-Todesfälle machten demnach 62,6% davon aus! Von 1994 bis 2013 sind nach den Zahlen der Berufsgenossenschaften insgesamt 29 263 Menschen an einer der drei »großen« Asbest-Berufskrankheiten gestorben – und ein Ende ist zumindest bis 2020 nicht absehbar. Da allerdings weitere Asbest-Erkrankungen entweder nicht erkannt oder nicht amtlich anerkannt werden, muss es eine weitere Dunkelziffer von Todesfällen und unbekannter Höhe geben.

Lothar Schröder, u.a.
Streit um Zeit - Arbeitszeit und Gesundheit
39,90 €
Mehr Infos