4.2 Entwicklungsstand des betrieblichen Arbeitsschutzes

Über die Strukturen und die Praxis des betrieblichen Arbeitsschutzes gab es lange Zeit kaum empirische Informationen. Dies änderte sich mit der Etablierung der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) ab dem Jahr 2008. Im Rahmen der periodischen Evaluation der GDA erfolgten 2011 und 2015 jeweils eine repräsentative Betriebs- (N = 6.500) und eine Beschäftigtenbefragung (N = 5512 bzw. 5.000), in denen verschiedenste Aspekte des betrieblichen Arbeitsschutzgeschehens beleuchtet wurden.

Als Kernelement des betrieblichen Arbeitsschutzes gilt die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung gem. §§ 5 und 6 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). Wie die GDA-Befragungen zeigen, wird diese seit 1996 bestehende gesetzliche Verpflichtung bislang nur in etwas mehr als der Hälfte der Betriebe erfüllt, wobei sich im jüngeren Zeitverlauf auch keine substanzielle Verbesserung eingestellt zu haben scheint. Umsetzungslücken gibt es nach wie vor v.a. im kleinbetrieblichen Bereich (< 50 Beschäftigte) (Abb. 45).

Defizite in der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung zeigen sich nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. So werden zwar von fast allen Betrieben (95%), die im Zuge einer Gefährdungsbeurteilung präventiven Handlungsbedarf festgestellt haben, nach eigener Angabe auch entsprechende Arbeitsschutzmaßnahmen ergriffen, eine Überprüfung der Maßnahmenwirksamkeit findet jedoch nur in 56% dieser Fälle statt. Außerdem werden psychische Belastungen trotz ihrer deutlich gestiegenen Relevanz in sehr viel geringerem Umfang (zu 44%) von Gefährdungsbeurteilungen aufgegriffen als die traditionell im Mittelpunkt des Arbeitsschutzes stehenden Belastungen und Gefährdungen durch Arbeitsumgebung (73%), körperlich schwere Arbeit (67%) und Maschinen/Arbeitsgeräte (70%).

Auch bei der präventionsfachlichen Betreuung deuten die Befragungsergebnisse auf eine den Erfordernissen nicht entsprechende (und seit 2011 sogar leicht verschlechterte) Situation hin. Die vorgeschriebene Betreuung durch eine Sicherheitsfachkraft ist hiernach in weniger als der Hälfte, die Inanspruchnahme eines Betriebsarztes gar nur in einem guten Drittel der Betriebe gewährleistet, mit jeweils besonders gravierenden Defiziten im Kleinbetriebssektor (Abb. 46).

Zumindest im Falle der Betriebsärzte ist allerdings zu berücksichtigen, dass laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin das verfügbare Angebot den Betreuungsbedarf auch überhaupt nicht zu decken vermag. Das so genannte alternative Betreuungsmodell (»Unternehmermodell«), bei dem Kleinbetriebsinhaber nach Absolvierung spezieller Qualifizierungsmaßnahmen den Arbeitsschutz im Wesentlichen selbst durchführen und über den ggf. erforderlichen präventionsfachlichen Beratungsumfang auch weitgehend selbst entscheiden, wird nach wie vor nur von einer recht kleinen Minderheit (15%; 2011: 18%) der dafür prinzipiell in Frage kommenden Betriebe (bis 50 Beschäftigte) praktiziert.

In 39% der Betriebe wurden Führungskräfte speziell zu Fragen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes geschult – ein gegenüber 011 nahezu unveränderter Wert.

Weitenteils (von 80% aller befragten Betriebe) erfüllt wird die gesetzliche Pflicht, die Beschäftigten zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz zu unterweisen. Sehr häufig erfolgt dies bei Neueinstellungen (86% der unterweisenden Betriebe), bei der Einführung neuer Arbeitsmittel oder Technologien (80%) sowie anlassunabhängig in regelmäßigen Abständen (83%), deutlich seltener jedoch bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes bzw. der Arbeitsaufgabe (45%). Nach den Ergebnissen der GDA-Beschäftigtenbefragung stehen bei den Unterweisungen Fragen der Arbeitssicherheit im Vordergrund, weniger oft – wenngleich in einem seit 2011 deutlich erhöhten Maße – thematisiert werden Vorkehrungen gegen Stress und langfristigen Gesundheitsverschleiß (z.B. Körperhaltungen bei der Arbeit).

Die Beteiligung der Beschäftigten an der Identifizierung von Belastungsproblemen und deren Lösung wird inzwischen als unverzichtbares Element eines modernen Arbeitsschutzes angesehen. Über die reale betriebliche Beteiligungspraxis geben die vorliegenden Befragungsdaten aber bestenfalls groben Aufschluss. So berichten gut zwei Drittel der Betriebe, die Gefährdungsbeurteilungen durchführen, dabei auch die Beschäftigten zu arbeitsbedingten Belastungen und Gesundheitsproblemen zu »befragen«. Allerdings wird dies nur von der Hälfte derjenigen Beschäftigten, deren Arbeitsplatz nach eigener Angabe einer solchen Beurteilung unterzogen wurde, bestätigt. Im Falle festgestellten Maßnahmenbedarfs wiederum geben 71% der betroffenen Beschäftigten an, an der Suche nach entsprechenden Lösungsmöglichkeiten beteiligt worden zu sein (wobei unklar bleibt, in welcher Weise und mit welcher Konsequenz dies erfolgte).

Arbeitsschutz ist dann am effektivsten, wenn er von vornherein in alle relevanten betrieblichen Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse integriert ist. Den Befragungsergebnissen nach zu urteilen ist dies keineswegs durchgängig (und je nach Handlungsbereich auch in recht unterschiedlichem Maße) der Fall: Während jeweils rund zwei Drittel der Betriebe angeben, den Arbeitsschutz bei der Beschaffung von Maschinen, Geräten und Material sowie bei Veränderungen in der Betriebs- und Arbeitsorganisation zu berücksichtigen (aber ein Drittel eben auch nicht), wird dies in Bezug auf die Planung von Gebäuden, Anlagen und Fertigungsstraßen lediglich von 37% bestätigt.