1.2 Körperliche Belastungen bleiben hoch

Auch wenn psychische Belastungen aus guten Gründen in der heutigen Arbeitswelt besonders große Aufmerksamkeit erfordern, so sind körperliche Belastungen doch auch nach wie vor weit verbreitet und verdienen Beachtung. Dabei gibt es seit einigen Jahren im Zuge wirtschaftlicher Strukturveränderungen, vor allem des Bedeutungsgewinns des Dienstleistungssektors bemerkenswerte Verschiebungen im Belastungsspektrum. Zudem treten körperliche und psychische Belastungen in der Praxis zumeist nicht säuberlich getrennt, sondern im Zusammenhang auf – also etwa körperliche Belastungen unter Zeitdruck usw. Häufige und permanente körperliche und einseitige Belastungen führen zu Beanspruchungen, die sowohl auf kurze als auch auf längere Sicht gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen.

In den Anhängen der Jahrbuch-Ausgaben von 2011 bis 2013 wurden zuletzt Daten zum anhaltend hohen Niveau körperlicher Belastungen ausgewertet. Diese Daten beziehen sich auf die BIBB/IAB- bzw. BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragungen der Jahre 1998/99, 2005/06 und 2011/12. Neuere Daten aus der allerneuesten Erwerbstätigenbefragung waren bei Redaktionsschluss dieses Bandes noch nicht veröffentlicht. Die Abb. 14 gibt einen Überblick über die Entwicklung der Jahre 1998 bis 2012.

Betrachtet man die einzelnen Belastungsarten im Zeitverlauf genauer, so zeigen sich bemerkenswerte Veränderungen. Beim Heben und Tragen schwerer Lasten gibt es seit 1998/99 eine leichte Abnahme, die jedoch seit 2005/06 nicht weiter zurückgegangen ist. Bei Zwangshaltungen ist 2005/06 eine Abnahme gegenüber 1998/99 zu erkennen, jedoch seither wieder eine Zunahme. Knapp die Hälfte der davon Betroffenen (49%) fühlt sich davon auch belastet. Leicht rückläufig, aber immer noch hoch ist der Anteil derjenigen, die im Stehen arbeiten. 28% derjenigen, die davon berichten, belastet das auch.

Für die Belastung »Arbeiten im Sitzen« liegen 2011/12 keine Daten vor. 2005/06 ist jedoch ein hoher Anteil von Beschäftigten, nämlich mehr als die Hälfte der Befragten, davon betroffen. Eine zunehmende Tendenz gibt es bei Arbeiten mit gefährlichen Stoffen und Strahlungen, bei mikrobiologischen Stoffen sowie bei Lärm. Mehr als die Hälfte derjenigen, die bei der Arbeit mit Lärm zu tun haben (51%), fühlt sich davon auch belastet. Beträchtlich angestiegen ist auch der Anteil der Beschäftigten, die Schutzkleidung bei der Arbeit tragen (müssen).

Ähnliche Erhebungen hat schon vor einigen Jahren das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) angestellt (Abb. 15). Dessen Daten geben zeitlich ebenfalls etwa den Stand der letzten bisher veröffentlichten BIBB/BAuA-Befragung wieder. Dazu hat das WIdO eine Vielzahl von Beschäftigtenbefragungen in Betrieben ausgewertet, an denen die AOKen beteiligt waren. Dabei wurden die Angaben von etwa 28.000 Beschäftigten ausgewertet, mehrheitlich aus dem verarbeitenden Gewerbe. Sie geben Aufschluss darüber, wie Erwerbstätige ihre Arbeitsbedingungen beurteilen und ihre gesundheitliche Situation am Arbeitsplatz einschätzen. Die Datengrundlage ist zwar nicht repräsentativ, lässt aber gewisse Trendaussagen zu.

Die Befunde zu körperlichen Belastungen zeigen, dass neben der häufigen Nennung von schwerer körperlicher Arbeit durch Heben, Tragen und Ziehen schwerer Lasten auch andere stark belastende Faktoren verbreitet sind, vor allem ständiges Stehen, ständiges Sitzen und Bewegungsmangel. Schon zu dieser Zeit war die Gesundheits- und Sozialbranche mit einem hohen Anteil pflegerischer Berufe in besonders hohem Maße durch körperliche Belastungen geprägt. In der öffentlichen Verwaltung spielten ständiges Sitzen und Bewegungsmangel die wichtigste Rolle im Belastungsspektrum.

Um die aktuelle Entwicklung bis in die Gegenwart genauer zu erfassen, liegen uns Daten des DGB-Index Gute Arbeit vor, die uns vom Institut DGB-Index freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden. Der DGB-Index erhebt seit 2007 Daten zur Arbeitsqualität aus der Sicht der Beschäftigten durch eine jährliche repräsentative Befragung. Die Befunde der bundesweiten Repräsentativerhebung 2017 basieren auf den Angaben von knapp 5.000 abhängig Beschäftigten aus allen Alters-, Branchen- und Beschäftigungsgruppen.

Die hier präsentierten Daten beziehen sich auf das Jahr 2017, lassen also zwar nicht den Zeitverlauf über die vergangenen zehn Jahre erkennen, bieten aber eine aktuelle Momentaufnahme. Die körperlichen Belastungen werden dabei nach vier Items erfragt: Verbreitung von körperlich schwerer Arbeit, von ungünstigen Körperhaltungen, von Lärm sowie von widrigen Umgebungsbedingungen. Den Daten liegen Befragungen eines repräsentativen Querschnitts aus der Erwerbsbevölkerung zugrunde (Abb. 16).

Insgesamt liegen die Anteile derjenigen, die nach eigener Einschätzung von körperlichen Belastungen betroffen sind, höher als bei den BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragungen. 32% der Männer und 26% der Frauen müssen nach eigener Angabe bei der Arbeit häufig schwere Lasten heben, tragen oder stemmen. Sogar 37% der Männer und immerhin 22% der Frauen arbeiten unter widrigen Umgebungsbedingungen (Kälte, Hitze, Nässe, Feuchtigkeit, Zugluft). Zu den »klassischen« körperlichen Belastungen gehören auch Lärm oder laute Umgebungsgeräusche am Arbeitsplatz. Hier liegen die Anteile noch höher. Insgesamt 40% der Beschäftigten berichten davon (Männer 43%, Frauen 37%).

Die gegenwärtig am meisten verbreitete körperliche Belastung ist aber offenbar mit »ungünstigen Körperhaltungen« verbunden, also mit Zwangshaltungen verschiedenster Art. Deutlich über die Hälfte der Beschäftigten berichtet davon. Am höchsten liegt der Anteil insgesamt diesmal nicht (wie sonst) bei den Männern, sondern bei den Frauen: 57% der Frauen sind betroffen, 50% der Männer. Die Aufteilung nach Berufsgruppen gibt näheren Aufschluss darüber, bei welchen Berufen und Tätigkeiten körperliche Belastungen durch Zwangshaltungen am meisten auftreten (Abb. 17).

Abb. 17: Verbreitung ungünstiger Körperhaltungen
bei der Arbeit nach Berufsgruppen 2017

 

Quelle: DGB-Index Gute Arbeit 2017

 

Insgesamt – ungünstige Körperhaltung (sehr häufig/oft in Prozent)

Männer – ungünstige Körperhaltung (sehr häufig/oft in Prozent)

Frauen – ungünstige Körperhaltung (sehr häufig/oft in Prozent)

Land/Forst/Garten Berufe

73,3

72,8

74,4

Rohstoff/Kunststoff/Holz/Papier/Textil/Leder

71,4

73,2

68,0

Metallberufe

60,3

57,1

84,6

Maschinenbau

54,0

55,0

42,6

Elektro/Mechatronik

45,7

46,4

39,7

Konstruktion/Steuerung

34,8

35,6

32,6

Lebensmittel

73,8

74,8

72,6

Bauplanung/Architekt/Hoch-/Tief-/Ausbauberufe

75,5

78,1

41,2

Gebäude-/versorgungstechnische Berufe

68,6

68,7

64,9

Mathe/Biologie/Physik/Geologie etc.

36,7

44,3

28,4

Informatik/IT Berufe

30,4

22,2

71,5

Verkehr, Logistik (außer Fahrzeugführ.)

52,4

50,6

56,4

Führer von Fahrzeug- u. Transportgeräten

55,1

55,2

48,0

Schutz, Sicherheit, Überwachung, Militär

31,1

37,1

15,5

Reinigungsberufe

76,4

77,7

76,2

Einkaufs-, Vertriebs- und Handelsberufe

37,3

34,8

41,2

Verkaufsberufe

72,6

71,2

73,1

Tourismus-, Hotel- und Gaststättenberufe

48,7

17,3

58,0

Berufe Verwaltung, Unternehmensführung

38,4

32,8

41,4

Finanzdienstl., Rechnungsw., Steuerberatung

38,9

36,5

40,4

Berufe in Recht und Verwaltung

44,8

34,2

51,8

Medizinische Gesundheitsberufe

67,0

58,5

69,0

Nichtmed.Gesundheit, Körperpfl., Medizint.

73,4

67,2

75,6

Erziehung, soz., hauswirt. Berufe, Theologie

66,3

28,8

71,9

Lehrende und ausbildende Berufe

40,2

31,0

46,0

andere Dienstleistungsberufe

34,9

32,1

37,3

Zwangshaltungen sind nach wie vor und in hohem Maße als »klassische« Belastung in Produktionsberufen anzutreffen, so etwa in Bauberufen mit Anteilen Betroffener von 68%, in Land- und Forstwirtschaft (73%), in Holz-, Papier- und Textilberufen (71%), in der Lebensmittelindustrie (knapp 74%) und in Metallberufen (60%). Zumeist sind hier die Anteile betroffener Männer ebenfalls hoch, oftmals höher als bei den Frauen: Maschinenbau 55% zu knapp 43%; Holz-, Papier- und Textilberufe 73% zu 68%; Gebäude- und Versorgungstechnische Berufe 69% zu 65%; Transportberufe 55% zu 48%.

Strukturelle Veränderungen werden aber auch daran sichtbar, dass z. B. bei den Metallberufen der Anteil betroffener Frauen mit 84,6% deutlich höher liegt als der der Männer (57,1%) und damit der höchste überhaupt bei dieser Belastungsart ist. Auch in den land- und forstwirtschaftlichen Berufen liegt der Anteil von Zwangshaltungen belasteter Frauen (74%) höher als der der Männer (72,8%).

Besonders auffallend ist der hohe Anteil von Belastungen durch Zwangshaltungen im Dienstleistungsbereich, der in früheren Erhebungen so noch nicht sichtbar war. Bei den Reinigungsberufen sind 76% der Befragten mit Zwangshaltungen belastet, in den Verkaufsberufen knapp 73%, in den medizinischen Gesundheitsberufen 67%, in den nichtmedizinischen Gesundheitsberufen (Körperpflege, Medizintechnik) 73%, in den Erziehungs-und Sozialberufen 66% und in den Lehr- und Ausbildungsberufen immerhin noch 40%.

In diesen Berufen liegen die Anteile betroffener Frauen durchgängig höher als die der Männer oder zumindest etwa gleich hoch. Hier sind körperliche Belastungen längst keine »Männerdomäne« mehr. In den Reinigungsberufen ist das Verhältnis Männer zu Frauen 77,7% zu 76%, in den Verkaufsberufen 71% zu 73%, in den medizinischen Gesundheitsberufen 58% zu 69%, in den nichtmedizinischen Gesundheitsberufen 67% zu 75%, in den Erziehungs- und Sozialberufen sogar knapp 29% zu 72% und in den Lehrberufen immerhin noch 31% zu 46%. In unternehmensnahen Verwaltungsberufen berichten 41% der Frauen von Zwangshaltungen (gegenüber knapp 33% der Männer), in öffentlichen Verwaltungsberufen und im Rechtswesen knapp 52% der Frauen gegenüber 34% der Männer. Ständiges Sitzen, monotone Bewegungsabläufe und Bewegungsmangel rangieren also inzwischen ganz vorne bei den körperlichen Belastungen.

Der Blick auf die europäische Ebene zeigt, dass die skizzierten Trends im Großen und Ganzen in allen EU-Mitgliedsländern vorkommen. Die seit 1990 in Fünfjahresabständen vorgelegte Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound) liefert dazu etliches Anschauungsmaterial (Abb. 18). Der Bericht über die aktuelle Erhebung (2015) konstatiert eine leichte Verbesserung bei körperlichen Belastungen wie Heben und Tragen schwerer Lasten usw. Diese verharren aber auf einem relativ hohen Niveau. Hier sind Beschäftigte in der Bauwirtschaft am meisten belastet. Zugleich haben die Risiken durch Kontakt zu chemischen Substanzen und infektionsgefährdenden biologischem Material zugenommen. Letzteres wird mit der Expansion des Gesundheitssektors in Verbindung gebracht. Damit hängt auch die Zunahme von Belastungen wie das Heben und Tragen von Personen zusammen. Dann fährt der Bericht fort: »It is clear that posture-related risks – in particular repetitive hand and arm movements – are the most prevalent in Europe. Some 61% of workers report this.« Es sind also vor allem ergonomische Probleme – haltungsbedingte Risiken, Zwangshaltungen, ungünstige Körperhaltungen und -bewegungen, die bei den körperlichen Belastungen heute eine sehr viel größere Rolle spielen als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Bei den gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitsbelastungen muss beachtet werden, dass an vielen Arbeitsplätzen mehrere Belastungsfaktoren gleichzeitig auftreten können. Körperliche Belastungsfaktoren treten dabei auch häufig zusammen mit psychischen Belastungen auf. Die Zahl der Mehrfachbelastungen nimmt dabei mit dem Alter zu. Bei den genannten Befragungen des WIdO werden besonders häufig zwischen drei und fünf Belastungsfaktoren gleichzeitig benannt. Abb. 19 zeigt die zehn am häufigsten genannten Belastungsfaktoren, die oftmals in Kombination miteinander auftraten.